Zeitgenössische Textpraxis und fragwürdige ethische Regeln stehen im Konflikt zu publizistischen Aufgaben.
(15.9.2018) Neulich sah ich einen Film, der mich nachdenklich gestimmt hat. Welchen, ist egal. Nur eine Szene ist wichtig: Darin sitzt der Hauptdarsteller in einer öffentlichen Bibliothek vor dem Mikrofichegerät und recherchiert in alten Zeitungsjahrgängen eine Mordserie. Vielleicht sollte ich das Erscheinungsjahr erwähnen: 2007. Die Handlung liegt nochmal ein paar Jahre zurück. Ich saß da einigermaßen vom Donner gerührt. Der Rechercheur zieht die Filmstreifen durch und kann durch die Schlagzeilen klar auf den Inhalt der folgenden Nachricht schließen. Wo es interessant erscheint, hält er an (worin eine Parallele zu modernem Leseverhalten zu erkennen ist.)
Freiwillige Selbstbeschränkung
Diese Form der Recherche wäre heute gar nicht mehr möglich. Das hat zwei Gründe:
- Seit Jahren pflegen Zeitungen, u.a. die Süddeutsche Zeitung, die Ein-Wort-Überschrift im Storytelling-Stil – s. Bild. Hier wird ungefähr und assoziativ getextet, es sind keine nachrichtlichen Elemente mehr enthalten. Wie soll ein Rechercheur damit erkennen, was im Artikel steht? Unmöglich.
- Journalisten haben sich einen Verhaltenskodex auferlegt, der sie verpflichtet, bestimmte Eigenschaften nicht mehr zu nennen, wenn sie diskriminierend wirken könnten. (Anmerkung am Rande: diskriminieren heißt fachsprachlich unterscheiden, ohne die abwertende Nebenbedeutung, s. Duden) Man kann meist im Kontext schließen, was (oder wer) gemeint ist, sodass jeder dennoch weiß, was gemeint ist, aber klar genannt werden sie nicht mehr. Ein Beispiel, hier aus der FAZ, wäre der vielzitierte „südländische Typ“, der in der Überschrift als „Unbekannter“ bezeichnet wird. Derartige Schlagzeilen erschweren Recherche wie die obige. Heute würde der Hauptdarsteller lange sitzen und manches vielleicht sogar übersehen.
Ich frage (pathetisierend und provokativ): Wo bleiben Transparenz, Genauigkeit und Wahrhaftigkeit? Warum vertuschen wir freiwillig, warum beschränken wir uns? Was wurde aus dem Gedanken der Aufklärung?
Funktion von Sprache und Anspruch von Recherche
Sprache hat ein umfangreiches Vokabular, um Dinge voneinander zu unterscheiden und genau zu bezeichnen. Diese Möglichkeit nutzen wir nicht mehr aus. Recherche klärt auf, verschweigen oder verhüllen vertuscht. Der Spiegel wirbt mit den großen Worten: Keine Angst vor der Wahrheit. Das müsste doch der Maßstab sein.
Stattdessen nehme ich eine Kluft zwischen Möglichkeiten, Anspruch und Praxis wahr. Amerikanisch verkürzt möchte ich ausrufen: Wtf! Über Jahrhunderte hat die Aufklärung (als geistige Bewegung) Europa zu dem gemacht, was es heute ist. Unter anderem ist es gelungen, sich von der Vormacht von Kirche und Religion zu befreien. Warum unterwerfen wir uns wieder? Damit alle dazugehören und niemand ausgeschlossen wird? Um des lieben Friedens willen? Unter dessen dünner Oberfläche es dann nur umso heftiger brodelt? Die Absicht ist ehrenwert, aber kein sinnvolles Kriterium für aussagekräftige Berichterstattung.
Macht Google es besser als der Mikrofilm?
Aussage dieses Beitrages soll keineswegs sein, dass früher alles besser war. Stattdessen, dass wir uns freiwillig verschlechtert haben. Wäre ich Hadmut Danisch, schriebe ich: Politische Korrektheit zerstört die Presse. Bin ich aber nicht. Konstruktiv gewendet sage ich lieber: Die Filmszene muss heute nicht mehr möglich sein, weil wir mit Google anders recherchieren können. Vermutlich kommt die Suchmaschine mit den Ungenauigkeiten besser zurecht, weil sie den Kontext deuten kann. Die Art der Berichterstattung wird dadurch allerdings nicht besser. Wenn jemand durch Offenheit an den Pranger gestellt wird, ist das der Preis der Wahrheit.
[…] liegt er mit seiner Wortwahl voll im Trend, denn der besteht gerade darin, ins Große, Ungefähre, Verhüllende zu formulieren. Das bringt Rednern etliche […]