Dieser Blog-Beitrag vereint drei neue Headline-Lieblinge mit einem kleinen Exkurs über die Flüchtigkeit von Kreativität – und wie sie verhindert werden kann.
Huch, schon wieder ein halbes Jahr her, dass ich Headline-Lieblinge gekürt habe. Zeit wird’s. Wenn Sie mir diese kurze Abschweifung gestatten, ich leide am (nicht unter dem) Situationen-vorbeiziehen-lassen-Syndrom. Sie kennen das sicher auch: Sie sehen, hören oder denken etwas, das sie zu einer Idee oder einem Gedanken inspiriert, und nehmen sich fest vor, sich ihn zu merken. Doch schon Minuten später ist der Funke in ihrem Hirn oder Gedächtnis schon wieder erloschen – beim besten Willen können Sie sich nicht erinnern, was es war. Kreativität ist so flüchtig wie Träume nach dem Aufwachen. Das macht sie kostbar, aber auch verletzlich. Schade um die vielen Einfälle, die auf diesem Weg den kurzen Weg vom Entstehen ins ewige Nirwana fanden.
Der Verlust der Geistesgegenwart
Profis wissen sich gegen den Verlust zu wappnen. Zu analogen Zeiten hatten sie einen Notizblock dabei, heute ist es noch einfacher geworden: Sie machen mit dem Smartphone ein Foto, hacken ihre Notiz da rein oder sprechen sie in die Diktier-App. Geistesgegenwart ist alles. Leider gelingt mir meistens nicht mal das: Entweder habe ich das Telefon nicht dabei oder nicht griffbereit, und manchmal denke ich, dass es vielleicht doch nicht so wichtig ist – nur um genau diese Fehlentscheidung später zu bedauern und Ärger aufsteigen zu spüren. Früher dagegen schrieb der Stift nicht, wenn es drauf ankam – oder Sie konnten hinterher Ihre Sauklaue nicht mehr entziffern.
Vom Vorteil eines Verzichts
Tja, die Luxusprobleme des Menschen in der Neuzeit. Vielleicht hat es ja auch sein Gutes: Auf diesem Weg veröffentliche ich hier nicht monatlich Headline-Lieblinge, mit der leisen Gefahr von Doubletten und Wiederholungen und der Chance, dem geneigten Leser auf die Nerven zu gehen, sondern nur alle sechs Monate. Denn seien wir ehrlich: Fühlen wir uns von all dem immer und überall zum Konsum stehenden Content nicht auch satt, um nicht zu sagen überfüttert? Wie schön, wenn ein Anbieter aus dieser Einsicht heraus seine Menge reduziert! Sehen Sie, zu der Ansicht, dass ein Verzicht auch seine gute Seiten haben kann, neige ich in dieser Frage auch.
Headline-Lieblinge des Monats
So lustwandelte ich auch im vergangenen Monat durch München und nutzte, wenn ich geistesgegenwärtig genug war, die Gelegenheit, ein paar Headline-Lieblinge im Bild festzuhalten. Den Auftakt macht das Medienmagazin Dwdl mit seiner Meldung über die Fernsehmesse Mipcom – siehe oben. Da fand ich diese Schlagzeile:
Cannes, muss aber nicht: Messe ohne Massen
Der Beitrag handelte vom gleichnamigen Austragsort des Events. Nette Idee, die identische Aussprache von Hilfsverb und Städtename bei verschiedener Schreibung in dieser spielerischen Form auszutauschen. Und nicht nur um des Wortspiels willen, sondern auch verbunden mit einer inhaltlichen Aussage, nämlich dass weniger mehr sein kann.
Da biste echt blatt
titelte der Texter der oetkerschen Agentur, als es darum ging, eine Rucolapizza für eine Displaywerbung anzupreisen. Hier genügte schon ein Buchstabe, um die Verbindung zwischen Backblech, Überraschung und Gemüse herzustellen. Neben dem Wortspiel gelingt auch noch eine qualitative Aussage, nämlich dass die Pizza „echt“ mit Blatt belegt ist. Nicht, dass er künstlich sein könnte, aber als Betonung, dass es sich wirklich um Rucola handelt.
Sixt im Bann des Voodoo-Zaubers
Regelmäßige Leser dieses Blogs wissen, dass ich die Anzeigen und Social-Media-Posts von Sixt schon lange schätze. Neulich entdeckte ich auf dem Düsseldorfer Flughafen diese Installation – s. Bild. Da hatten sie doch tatsächlich ein Auto in eine Voodoo-Puppe verwandelt und mit Nadeln gespickt, zusammen mit dem Slogan
So günstig, dass die Konkurrenz uns verflucht.
Da muss man nichts mehr sagen, außer: Kompliment zu diesem Geistesblitz. Und den Ehrgeiz, ihn zu realisieren. Denn billig war das sicher nicht. Doch sie haben den Aufwand nicht gescheut.
P.S. Am Rande notieren wir noch, dass cringe, das auf Deutsch das Gefühl des Fremdschämens beschreibt, im Oktober zum Jugendwort des Jahres 21 gekürt wurde. Ich erwähne das, weil das Jugendwort eine lange Tradition in diesem Blog hat. Wobei man bei cringe ergänzen muss, dass es eigentlich nicht zählt, weil es schon im letzten Jahr nominiert war. War es nicht so, dass ein Wort nur einmal ins Rennen gehen darf? Aber wer weiß, vielleicht wurden die Teilnahmebedingungen auch geändert. Jedenfalls: Applaus!
[…] Zeit vergeht – die letzten Headline-Lieblinge kürte ich im […]
Guten Tag Herr Bargmann,
auf der Suche nach Bestätigung meiner Wahrnehmung, dass überall plötzlich Leute “fein” mit etwas sind, stieß ich auf Ihren Artikel, der sich genau um dieses Phänomen dreht – vielen Dank dafür!
Und weil ich mich so köstlich amüsierte, las ich auf Ihrer Seite noch hierhin und klickte dorthin und … landete nun auch bei obigem Artikel, zu dem ich folgende Frage habe:
Ja, der Sixt-Slogan ist wirklich gelungen, allerdings wartete ich auf einen Kommentar Ihrerseits ob des nachgestellten Reflexivpronomens – ein weiteres Phänomen unserer Zeit – aber Ihr Kommentar blieb aus. Lag das daran, dass Sie keine Themen vermischen möchten oder sind Sie etwa “fein” mit nachgestellten Reflexivpronomen?
Hallo Frau Reim,
verzeihen Sie die späte Antwort, ich war im Urlaub. Freut mich, dass ich Ihnen etwas Kurzweil verschaffen konnte. Was Reflexivpronomen angeht: Ich bin nicht fein damit, aber nicht ganz so streng. Was der Sixt-Texter oben fabriziert hat, ist ja nicht direkt ein Fehler, sondern eine stilistische Feinheit. In der Abwägung Kreativität vs. Grammatik würde ich in diesem Fall immer noch Ersterem den Ausschlag geben lassen.