Bald wird wieder der Anglizismus des Jahres gewählt. Ich werde mich für Virtue Signalling starkmachen. In diesem Blog-Eintrag begründe ich meinen Vorschlag.
(3.11.2017, Aktualisierung 15. & 30.1.2018, 16.3.2019) Der November ist da, Zeit sich für die einschlägigen Wortwettbewerbe warm zu machen: Wort des Jahres, Unwort des Jahres, Anglizismus des Jahres. Wobei man gleich zu Beginn des Beitrages sagen muss, dass die Relevanz der Wahlen in den letzten Jahren stark nachgelassen hat, weil Mutlosigkeit und pc die Jurys getrieben haben. Zweitens, dass die Wahl zunehmend schwieriger wird, weil so viele Anglizismen ins Deutsche diffundieren, dass es schwer wird, einzelne Herausragende zu identifizieren.
Was ist Virtue Signalling?
Mit der zunehmenden Verbreitung sozialer Medien verbreiten sich auch gewisse Verhaltensweisen im Netz. Zu ihnen gehört Virtue Signalling, ein Begriff aus den USA, den das Cambridge Dictionary wie folgt definiert:
Der Versuch, anderen zu zeigen, dass Sie ein guter Mensch sind, zum Beispiel durch Meinungsäußerungen, die für sie akzeptabel sind, vor allem in sozialen Medien.
Tugendsignalisierung ist die populäre moderne Angewohnheit, Moral und Anstand für sich zu beanspruchen, in dem man Abscheu oder Zustimmung für bestimmte politische Ideen oder kulturelle Ereignisse ausdrückt.
Wenn Sie den Link klicken, können Sie auch hören, wie das Wort ausgesprochen wird.
Virtue Signalling: Beispiele und Bedeutung
Was heißt das konkret? Die amerikanische Wikipedia bietet einige Beispiele, was man sich unter Virtue Signalling vorstellen kann:
- Auf Facebook sein Profilbild für einen bestimmten Zweck zu ändern.
- Bei der Ice Bucket Challenge mitzumachen
- Nach Anschlägen kundzutun, dass man in Gedanken und mit Gebeten bei den Opfern ist
- Die Reden von Showgrößen bei Preisverleihungen
Vielleicht könnte man allgemein sagen: Tugend demonstrieren. Früher hätte man wohl von einem Moralapostel gesprochen, aber das ist sehr negativ konnotiert. Milder wäre ein Tugendwächter, aber auch der ist restriktiv und klingt nach Harem.
Gemeint ist wohl so etwas wie Zivilcourage in der virtuellen Welt. Doch mit herablassender Note, wie ein erhobener Zeigefinger. Dass manche sich von der Konfrontation genervt fühlen und von Tugendterror sprechen, ist die logische nächste Stufe der Eskalation.
Sie sehen, das Wort ist in seiner Bedeutung im Deutschen nicht so ohne Weiteres zu fassen. Insofern hat es seine Existenzberechtigung als Anglizismus und erfüllt eine der Anforderungen des Wettbewerbs. Es geht in jedem Fall darum, in einer Zeit von Hass und Hetze für eine bessere Diskussionskultur einzutreten, wie sie zum Beispiel die Facebook-Gruppe #ichbinhier verkörpert. Es scheint allerdings so, dass die inhaltliche Auseinandersetzung gegenüber einer bloßen Behauptung zurücktritt. Das erinnert mich an lang zurückliegende Kindertage, als man sich gegenseitig „Selber, selber“ vorwarf. Der Hater ist immer der andere. Mehr Inhalt, weniger Zuschreibungen – das wäre m.E. für die Zukunft der Diskussionskultur im Netz wünschenswert. Oder man macht es klassisch wie in jedem gut organisierten Internetforum: „Füttere den Troll nicht.“
Virtue Signalling: Ursprung und Fundstellen
Die Urheberschaft für Virtue Signalling nimmt der Autor James Bartholomew („The Welfare of Nations“) am 18.4.2015 im Blog des Magazins „Spectator“ in Anspruch. Das steht allerdings im Widerspruch zur Herkunftsgeschichte lt. US-Wikipedia, die den Begriff aus der Verhaltensbiologie ableitet, und wurde bereits richtiggestellt.
Auch in Palma de Mallorca wird derzeit Tugendhaftigkeit signalisiert, dafür in der wahren Welt, anachronistisch mit einer Flagge – siehe Bild. Dennoch wird hier Tugend demonstriert, in diesem Fall die Loyalität zu Spanien. Die Katalanen, deren Dialekt auf Mallorca zweite Amtssprache ist, würden zweifellos ihrerseits die Tugend für sich in Anspruch nehmen – schließlich strebt man nach nichts Unschuldigerem und Reinerem als Unabhängigheit, Freiheit und Selbstbestimmung.
Die ersten deutschen Quellen beschäftigten sich im November 2015 mit dem Phänomen. Virtue Signalling gewann seit Beginn der illegalen Einwanderung 2015 bis zur Bundestagswahl 2017 an Bedeutung. In dieser Phase schien das Migrationsthema einseitig von Hass und Hetze besetzt. Am Ende wurde sogar ein Netzwerkdurchsetzungsgesetz erlassen, damit der Ton in den sozialen Medien sich mäßige.
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Es gibt auch eine Fundstelle mit Virtue Signalling als Verb. Das liest sich allerdings sehr künstlich und wurde wahrscheinlich rein wortspielerisch verwendet:
Zur Verbreitung habe ich ermittelt, das Virtue Signalling auf 470.000 Treffer bei Google kommt (Stand 30.10.2017). Das ist für einen neuen Begriff schon stattlich. Am 19.9.2017 waren es noch 467.000. Wir sehen eine leichte Steigerung, also einen intakten Trend. Aktualisierung, 16.3.2019: Google kommt auf 3.380.000 Fundstellen – der Trend ist mehr als intakt. Nur im DWDS , in dem Zeitungen auf Worthäufigkeiten ausgewertet werden, tut sich noch nichts. In den Redaktionen ist der Begriff offenbar noch nicht angekommen.
Die Chancen im Wettbewerb beurteile ich insgesamt vorsichtig. Obwohl das Wort ein sehr populäres, relevantes Phänomen beschreibt, ist es sperrig und ein analytischer Fachbegriff. Es scheint mir eine kurz- bis mittelfristige Trenderscheinung zu sein.
Wissen Sie noch, was 2016 Anglizismus des Jahres war? Mit einem Klick können Sie Ihre Erinnerung auffrischen.
Aktualisierung, 15.1.2018: Vorschlag eingereicht.
Aktualisierung, 30.1.2018: Influencer wurde Anglizismus des Jahres 2017.
“Virtue Signalling” war doch bisher fast jedes Jahr der Anglizismus des Jahres… ach nein, umgekehrt…
[…] wir gerade von einem intakten Trend sprechen. Auch Virtue Signalling erfreut sich großer […]
[…] nicht nominiert. Meine Suche auf der Seite verlief jedenfalls ergebnislos. Mein letzter Tipp zum Virtue Signalling wurde 2017 weggelächelt, obwohl der Beitrag sich zu einem der meistgeklickten dieses Blogs […]