Weniger gut ist das neue schlechter: Medien verzichten zunehmend auf viele treffende, aber verneinende Adjektive. Stattdessen werden – vermeintlich präziser – die positiven Gegenteile mit weniger kombiniert.

(4.2.2011, Nachtrag 27.7.2011) Sie erinnern sich an George Orwells Neusprech, den er für 1984 vorausgesehen hatte? Das Gegenteil von gut heißt dort ungut – und nicht etwa schlecht. In den deutschen Medien hält diese Unsitte seit längerem Einzug.

Wenn die Preise weniger stark steigen – statt schwächer . . .

Gestern in den ARD-Tagesthemen: Caren Miosga schaltet zum Deutschlandtrend-Experten Jörg Schönenborn. Eine Grafik hinter ihm zeigt Umfrageergebnisse zur gefühlten Preisentwicklung. Die Preise steigen stärker, heißt Kategorie eins, sie entwickeln sich wie immer (Kategorie zwei) und drittens steht da: „Sie steigen weniger stark“. Ich reibe mir zu später Stunde verwundert die Augen: Weniger stark – dafür gibt es doch ein eigenes Wort: schwächer.

Das Beispiel ist kein Einzelfall. Was sind die Ursachen? Relativismus, wie bei Orwell? Ungut klingt milder als schlecht. Übertriebene Genauigkeit? Weniger stark heißt streng genommen, dass es immer noch stark ist, aber eben nicht mehr ganz so. Vermutlich. Schade um die vielen schönen, klaren Begriffe, die dadurch auf der Strecke bleiben.

. . . und aus selten weniger häufig wird

Nachtrag (27.7.11): Der Trend ist weiter stabil – ich habe in der Zwischenzeit zahllose Beispiele gefunden, auch in Büchern, den Medien mit der längsten Halbwertszeit. Heute in der Süddeutschen Zeitung ein besonders unnötiges Beispiel: Unter der Überschrift „Gesunde Stadt“ heißt es im Intro:

Beschäftigte in München lassen sich weniger häufig krankschreiben als andere Arbeitnehmer in Bayern.

Und im ersten Satz des Lauftextes gleich nochmal:

Die Menschen in München lassen sich weniger oft krankschreiben als jene in Bayern und in ganz Deutschland.

Es hätte genügt zu sagen, dass Münchner Beschäftigte sich weniger krankschreiben lassen. Die Kombination mit dem zusätzlichen Adverb, das vermeintlich präzisiert, ist redundant. Wer ganz korrekt sein möchte, benutzt das treffende Wort: Münchner Beschäftigte lassen sich seltener krankschreiben als andere. Das Argument mit der Genauigkeit ist hier widerlegt – der Autor will bestimmt niemandem unterstellen, er lasse sich häufig krankschreiben.

Zu den Ursachen eine ergänzende Überlegung: Im Englischen wird der Komparativ von Adjektiven, die nicht gesteigert werden können, mit less und more plus Adjektiv gebildet. Hat sich dieser Sprachgebrauch ins Deutsche eingeschlichen?

Mehr zum Thema hier.

5 Responses to Weniger gut: Der Neusprech ist da
  1. Birgitt Kollmann 12. Mai 2011 at 18:13 Antworten

    Lieber Herr Bargmann,

    Saskia hat mir heute den Link zu Ihrem schönen (und schön gestalteten) Blog geschickt – genau das, was ich heute gerade brauchen konnte. Mir fiele noch so einiges ein: die falschen weil-Sätze, bei denen ich noch immer zusammenzucke, Appositionen im falschen Kasus, der würdelose Gebrauch von “würde” anstelle des altehrwürdigen Konjunktivs, die rasante Zunahme des Genitivs mit “von” (das neue Buch von dem Autor), dazu noch “irgendwie” und “ein Stück weit”. Der zehnbändige Duden kennt übrigens verstehbar …
    Schöne Grüße! Birgitt Kollmann

    • Hallo Frau Kollmann,

      da sehen wir offenbar einiges ähnlich. Der Tod der Konjunktion denn ist bereits geschrieben, aber noch nicht veröffentlicht; die Appositionen sind schon da, den sperrigen Genitiv mit von werde ich demnächst am Beispiel Moritz Rinkes behandeln, der das in seinem letzten Roman hundertfach praktiziert hat; dass der Duden verstehbar listet, habe ich inzwischen auch entdeckt und kann es mir nur mit der Alles-ist-erlaubt-Haltung infolge der Rechtschreibreform erklären.
      Irgendwie und ein Stück weit scheinen mir zugunsten von ein wenig auf dem Rückzug, das wiederum einen Beitrag verdient und erhält. Den Konjunktiv schließlich werde ich behandeln, wenn ich etwas über die indirekte Rede sage, denn der Unterschied zwischen dem Realis sei und dem Irrealis wäre verschwimmt leider auch zunehmend.
      In diesem Sinne auf bald!

  2. […] nur in der ARD greift der Orwell’sche Neusprech um sich (vgl. Post vom 4.2.) Auch vor anderen Medien macht die merkwürdige Angst vor dem treffenden Wort nicht halt. […]

  3. […] Öffentlich-Rechtlichen – das sind die mit der „Demokratieabgabe“ (© WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn), sog. Journalisten, die sich viel auf sich und ihre Qualität einbilden. Deren Mitarbeiter sollen […]

  4. […] Tochter sagt, etwas sei weniger gut, wenn sie schlechter meint. Ich habe vor einem Jahr schon über das Phänomen gebloggt, aber es hat sich medial und im privaten Umfeld dermaßen gehäuft, dass ich es noch einmal bringen […]


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