Bei der Wahl zur Schlagzeile des Jahres gab es wieder einmal einen treffsicheren, unterhaltsamen Gewinner.  Ich fürchte allerdings, dass der Spaß auf lange Sicht seltener wird.

Zurückgehende Printauflagen lassen das Biotop für kreative Überschriften schrumpfen

Der Verein deutsche Sprache hat die Schlagzeile des Jahres 2018 gewählt. Es siegte

Grün ist das neue Rot.

Die Zeile stammt aus der Ausgabe der Bild-Zeitung, in der über den Ausgang der bayerischen Landtagswahl berichtet wurde, den Niedergang der SPD und den Aufschwung der Grünen. Man kann über die publizistische Ausrichtung des Blattes geteilter Meinung sein. Doch handwerklich macht den Textern da so schnell keiner was vor, auch wenn die taz schon mal was Ähnliches hatte. Weiter wäre einzuwenden, dass die Zeile nicht so unverwechselbar ist wie z.B. Kinkel neuer Genscher, obwohl sie ähnlich aufgebaut ist. So hat zum Beispiel die Waldenburger Versicherung einen ähnlichen Slogan für ihr Nachhaltigkeitskonzept auserkoren, nur dass dort die Farben vertauscht sind.

Naturgemäß interessiert mich das Thema, ich liebe gute Schlagzeilen. Obwohl die Jury schwärmte, die Auswahl sei so groß wie noch nie gewesen, nimmt nach meinem Empfinden die Zahl der herausragenden kreativen Überschriften ab.

Warum sollten kreative Überschriften aussterben?

Ich sehe zwei Gründe:

  1. Zum einen, hat so manche Tageszeitung die Ein-Wort-Überschrift kultiviert, die sehr ungefähr und assoziativ über ein Thema gesetzt wird. Das geht zwar schnell und gilt als zeitgemäß,  eine Zeile wie oben aber erfordert einen Geistesblitz. Der wiederum setzt eine Idee und Inspiration voraus – und die Mischung hat immer weniger eine Chance.
  2. Zum anderen nämlich nimmt außerhalb gedruckter Medien die funktionale Überschrift zu. Damit meine ich, dass online alles auf das Ranking schielt, weswegen Keywords Teil der Headline sein müssen. Das stört mich nicht, es macht Überschriften informativer und schließt den folgenden Text meist bündiger an. Aber es verhindert zwangsläufig eine sog. kreative Überschrift. Oder aber Überschriften sind halbe Teaser, weil sie fürs Clickbaiting auf Neugier und Effekthascherei getrimmt werden. Auch das unterbindet die Chance auf intelligente Wortspiele.

Wo wird man kreative Überschriften weiter finden?

Daher kann meine Schlussfolgerung nur lauten, dass der Raum für Schlagzeilen dieser Art im Zuge des Niedergangs der Printmedien kleiner wird. Von ihm ist auch die Bild-Zeitung stark betroffen. Allerdings glaube ich nicht, dass Zeitungen und Magazine ganz aussterben werden. Stattdessen erwarte ich, dass ähnlich wie auf dem Tonträgermarkt, auf dem sich die Schallplatte einen messbaren Marktanteil zurückerobert hat, eine Nische für Print bleiben wird. Das ist dann nur konsequent, denn wer mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne und einer Lesedauer unter 20 Sekunden pro Artikel durchs Netz braust, hat für clevere Überschriften wahrscheinlich nur wenig Sinn.

Ich hoffe, dieser Beitrag klang nicht wie ein Abgesang, denn das war nicht seine Absicht; ich versuche nur, die Lage und die Entwicklung realistisch einzuschätzen.

Meinem Nachbarn, der stolz einen Cayenne Diesel durch die Gegend kutschiert, kann die aktuelle Überschrift des Jahres egal sein: Er ist farbenblind und kämpft mit Rot und Grün auf einem ganz anderen Gebiet. Von seinem Diesel ganz zu schweigen.

Die vollständige Liste der Überschriften des Jahres 2018 finden Sie hier. Zu früheren Beiträgen über die Wahl geht es hier entlang.

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