Alternative Fakten und Jamaika-Aus wurden zum Unwort bzw. Wort des Jahres gewählt – wie in den Vorjahren zweifelhafte Entscheidungen. Warum, erkläre ich hier.
Ich bin bekannt als friedfertiger Mitbürger. Keine Walther PPK in der Schublade, kein Eintrag im polizeilichen Führungszeugnis, nicht mal Punkte in Flensburg. Aber nach zwei weiteren trostlosen Wahlen muss ich mich zu Wort melden und ein paar alternative Fakten (im Wortsinn) zum Jamaika-Aus nennen.
Ich will gar keine Diskussion darüber führen, ob die diesjährigen Entscheidungen links oder rechts waren, wie das manchenorts getan wird. Das ist etwa so müßig wie die Frage, ob sie oben oder unten waren. Das sind bloße Kategorisierungen ohne inhaltliche Diskussion. Die aber muss zwangsläufig zu der Schlussfolgerung führen, dass die Entscheidungen unbedeutend waren. Wenn eine generalisierende, oder auch zuspitzende (je nachdem, aus welcher Richtung sie schauen, vor vorn oder hinten) Entscheidung wie eine Wahl ein Kriterium erfüllen muss, dann doch, dass sie relevant ist, also sachlich das Richtige und Wichtige kürt. Dies ist in beiden Fällen nicht geschehen. Und das ist schlecht und traurig gleichzeitig. Es ist mutlos und unsouverän. Es ist sachlich schwer zu halten.
Was war relevanter als das Jamaika-Aus?
Warum nicht? Eine einfache quantitative Analyse der engeren Auswahl hilft schon weiter. Beginnen wir mit dem Wort des Jahres. Hier ein Bildschirmfoto der Vorschlagsliste:
Für das „Jamaika-Aus“ erhalte ich, Stichtag heute, 375.000 Treffer bei Google. Meine Vermutung ist, dass die „Ehe für alle“ das relevantere Wort ist, weil es eine moralische Frage war, die das Land wesentlich tiefer bewegt hat. Und siehe, ich finde es 478.000.-mal. Stattdessen entscheidet sich die Jury für die kurzfristige Lösung, die schon morgen wieder vergessen sein wird. Warum, darüber will ich nicht spekulieren, muss aber das Schlimmste befürchten. Dass man nämlich durch diese Wahl zum Teil des politischen Betriebs werden, sich zum Teil von Macht und Einfluss aufschwingen will. Und das war nur ein Beispiel, das ich aus dem Bauch heraus nachgewiesen habe. Die anderen wären noch zu prüfen.
Und was relevanter als alternative Fakten?
Das Unwort des Jahres aber ist noch schlimmer, weil alternative Fakten in Deutschland praktisch keine Rolle spielen. Das ist ein reines US-Thema, wie die Jury in ihrer Begründung selbst einräumt. Machen wir auch hier den Häufigkeitstest. Alternative Fakten kommt auf 406.000 Treffer. Die Sondierungsgespräche, ebenfalls auf der Vorschlagsliste, kommen auf 1.280.000 Suchergebnisse. (Wobei man einräumen muss, dass es auch andere Sondierungsgespräche gegeben hat, also kein eindeutiger Bezug zu den gemeinten besteht.) Inhaltlich hätte ich die S. befürwortet, weil sie die einmalig lange Dauer der Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2017 treffend charakterisieren und ein kaum verhüllendes Hüllwort für Koalitionsverhandlungen sind.
Warum also werden alternative Fakten gewählt? Darüber muss man ein weiteres Mal spekulieren, kann aber aus der gegenwärtigen öffentlichen Gemütslage einige Schlüsse ziehen. Dazu gehört der Umstand, dass im Vorjahr bereits die bedeutungsähnlichen Fake News zum Anglizismus des Jahres gekürt wurden – im Grunde also dasselbe Wort zweimal. So komme ich nicht umhin zu denken, dass aus Sorge um die Demokratie ein pädagogisches Anliegen im Vordergrund stand. Das ist ehrenwert, aber kein besonders hartes Kriterium. Mit den Sondierungsgesprächen hätte sich die Jury gegen die Mächtigen gewannt. Möchte, darf, soll man das?
Ferner liefen Genderwahn und Babycaust
Zugegeben, andere Kandidaten hatten weitaus niedrigere Treffermengen, der Genderwahn zum Beispiel, der nur 85.000 Treffer aufweist. Während der mir als Begriff geläufig war, hatte ich vom Babycaust noch nicht einmal gehört. Zu bedenken wäre zudem, dass die Google-Suche keinen eindeutigen Schluss auf die Relevanz eines Begriffes zulässt. Das wird am besten am Vorschlag Shuttle-Service klar, der in erster Linie sachlich für ein alternatives Taxi gebraucht wird und nicht herabwürdigend für Flüchtlingstransporte über das Mittelmeer.
Ich nehme an, dass Häufigkeiten für Sprachwissenschaftler und die Jurymitglieder keine Entscheidungsgrundlage darstellen, vielleicht sogar verpönt sind. Macht’s einfach in der Entscheidung und nachvollziehbar für andere. Sie machen auch entbehrlich, denn dann könnten auch andere die Entscheidung treffen, und nicht mehr sie selbst. Wer macht sich gern ersetzbar? Dann lieber subjektiv bleiben und eine beliebige Begründung liefern. Ist sicherer.
Was sie dabei übersehen: Unbedeutende Entscheidungen machen auch die Wahl selbst unbedeutend. So schafft man es zwar kurzfristig in die Tagesschau, sich auf Sicht aber selbst ab. Das habe ich zwar schon öfter geschrieben, aber richtig bleibt es trotzdem.