Mann oder Mensch – Journalisten müssen heutzutage fein abwägen, wie sie formulieren. Die handwerklichen Anforderungen konkurrieren mit zeitgenössischer Schicklichkeit.

Ich hätte heute wohl etwas über das Jamaika-Aus schreiben sollen, das zum Wort des Jahres gekürt wurde. Doch es wäre eine Pflicht- und Fingerübung geworden, daher lieber ein Beitrag, der schon etwas länger reift. Zu den größeren Veränderungen im medialen Sprachgebrauch gehört die zunehmende Verwendung des Wortes Mensch. Zu Zeiten von Kraftwerk hieß die Frage Mensch oder Maschine, davor noch Mann oder Memme, heute Mensch oder Mann. Haupttreiber sind zwei Motive: Der Zeitgeist verlangt nach mehr Empathie und einem verstärkten Vorkommen der Frau in der Sprache. Ich habe zu dieser Entwicklung das Jahr über drei weitere Beispiele dokumentiert, die die Konflikte im Gebrauch zeigen.

Menschen oder Zuschauer?

Die Leichtathletik-WM 2017 fand in London statt, und der Kommentator des öffentlich-rechtlichen Fernsehens schwärmte von den „Menschen im Stadion“. Diese Formulierung ist unschön, weil unpräzise. Der gute Journalist sollte möglich genau berichten, die Worte sind sein Werkzeug. Menschen in einem Stadion – dafür gibt es ein Wort: Zuschauer.

Warum hörten wir es nicht? Ich fürchte, hier wirkt sich die allgemein um sich greifende Unkenntnis der Sprache aus. Es gilt als zeitgemäß, männlich und weiblich sprachlich zu trennen, um besonders Frauen sichtbar zu machen. Für diese Trennung gibt es eigentlich keinen Grund, weil der Unterschied zwischen grammatischem und natürlichem Geschlecht dafür sorgt, dass Zuschauer Männer und Frauen sein können. Um sich Zuschauerinnen und Zuschauer zu ersparen, wählte der Sprecher lieber die Menschen im Stadion. Das ist ökonomisch, aber auch ungenau. Man könnte es Opportunismus nennen, aber jeder ist sich selbst der nächste. Wer will schon seinen Job am Mikrophon verlieren, nur weil er sich unangemessen ausdrückt?

Der reichste Mann oder Mensch?

Im Juli berichtete Spiegel Online über den reichsten Menschen der Welt. Hier sieht es anders aus. Hätte man reichster Mann der Welt getitelt, wären Frauen von vornherein ausgeschlossen. Insofern war der Mensch hier die richtige Entscheidung. Ich klickte mich durch die Bildergalerie – auf Platz 14 kam mit der Französin Liliane Bettencourt die erste Frau. Insgesamt gibt es nur zwei Frauen unter den ersten 20 Plätzen. Das sind zehn Prozent. Ist es taktlos oder gar diskriminierend, vom reichsten Mann der Welt zu sprechen, wie es Ntv tat? Interessante Beobachtung am Rande: Wenn Sie auf dem Bildschirmfoto des SpOn-Beitrags genau hinschauen, sehen Sie, dass die URL statt Mensch Mann enthält – s. die rote Markierung. Dies reflektiert: Es verrät zum einen die Tradition, vom reichsten Mann der Welt zu sprechen. Zum anderen könnte es bedeuten, dass reichster Mann der Welt auf Google häufiger gesucht wird als reichster Mensch der Welt. Tatsächlich bringt der reichste Mann 383.000 Treffer, der reichste Mensch dagegen weniger als die Hälfte, 178.000. (Stand: 9.12.2017). Der Volksmund hinkt offenbar hinter dem Zeitgeist hinterher.

Tausende vs. tausende Menschen

Tausende Menschen sind obdachlos, schrieb Spiegel Online anlässlich eines Taifuns im Intro eines Aufmachers.  Diese Formulierung findet man ebenfalls immer öfter, auch in der Version: viele Menschen. Die Menschen sind dabei redundant, nicht als Menschen, sondern als Wort. Zahlworte enthalten sie nämlich bereits. Tausende sind obdachlos hätte unter professionellen und kommunikativen Gesichtspunkten vollkommen genügt. Doch online herrscht anders als im Print keine Platznot mehr, und schicklicher ist es heute, Empathie zu zeigen. Dies gelingt durch den rhetorischen Kunstgriff, den Menschen einzufügen. Wie schnell die Empathie der Ökonomie zum Opfer fällt, zeigt die Schlagzeile. Da wird das Zahlwort Tausende ohne den Zusatz Menschen gebraucht. Der Grund liegt auf der Hand: In der Überschrift spielt die Länge eine Rolle.

Mehr über Menschen.

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