Cancel Culture: Jemand äußert etwas, das anderen missfällt, und wird mundtot gemacht. Dieser US-Import schlägt auch in deutschen Medien Wellen.

Es gibt Autoren, die mit beeindruckender Frequenz Blogbeiträge raushauen, Michael Lohmann von der Deutschmeisterei zum Beispiel. So arbeite ich nicht. Längst nicht alle Themen, die meine Aufmerksamkeit erregen, mich interessieren oder anregen, werden zu einem Beitrag. Manchmal scheint mir das Thema zu geringfügig, manchmal sind andere schneller oder behandeln es umfassend, manchmal gelingt es mir nicht, einem Beitrag den richtigen Dreh zu geben. Wenn ich einen summarischen Werkstatteinblick geben darf, stehen 530 veröffentlichten Beiträgen 178 so genannte Stummel gegenüber – Ideen und Entwürfe, die ich verwarf oder zu den Akten legte.

Schon lange, seit 2020, um genau zu sein, wollte ich etwas über die Cancel Culture machen, die als medialer Kampfbegriff naturgemäß von Interesse für jemanden wie mich ist, der Sprache und ihre Entwicklung in Medien verfolgt. Hier gleich doppelt: Als Wort, aber auch als Zeitgeist-Phänomen. Ich begann, Quellen zu speichern und Material zu sammeln, in dem ich die Fälle Lisa Eckharts, Uwe Tellkamps und Dieter Nuhrs verfolgte, die alle drei – mehr oder weniger stark –  betroffen waren.

Doch es schien gefährlich, also anrüchig, missverständlich, ja rufschädigend, sich zu dem Begriff zu äußern. Als einen frühen Kronzeugen hatte ich mir ausgerechnet Gunnar Kaiser ausgesucht. Zu dem Zeitpunkt des Interviews, auf das ich verlinke, war er noch unverdächtig, geriet aber dann selbst ins Kreuzfeuer. Ich war froh, den Beitrag zurückgehalten zu haben.

Er war in der Liste der unvollendeten Entwürfe schon mächtig nach hinten gerutscht, als ich vor einigen Tagen auf diesen Aufsatz des österreichischen Philosophen Konrad Paul Liessmann stieß, den ich so grundlegend fand, dass ich beschloss, doch noch meinen Senf zum Thema dazuzugeben. Und so wie die Dinge stehen, scheint Liessmann Stand heute (6.2.22) auch unverdächtig – abgesehen davon, dass er ein alter, weißer Mann ist. 😉 Wie ich eben von der Gattin erfahre, handelt es sich um einen verdienten Autoren des Hanser-Verlages.

Er ordnet in seinem Aufsatz sehr breit ein, wie ich finde. Neben der Cancel Culture selbt kommt etwa auch die kulturelle Aneignung vor. Allerdings fehlt eine Definition, weswegen ich ein Zitat von Kaiser hier stehenlasse:

Definitionsversuch

Bei Cancel Culture . . .

geht es darum, mit Mitteln der Drohung, der Gewaltandrohung, tatsächlicher Gewalt, mit Mobbing oder Shitstorms Menschen unter Druck zu setzen, damit sie aus der Debatte gedrängt werden. Unter Druck gesetzt werden oft Dritte, zum Beispiel Veranstalter, Verleger, Arbeitgeber oder Plattformen, um die Leute unmöglich zu machen, um die es eigentlich geht, ohne dass diese in den Diskurs direkt mit einbezogen werden.

Die Cancel Culture kann also die Folge eines Shitstorms sein. Und das Dumme ist: Das Ansehen aller Beteiligten wird beschädigt. Ein bisschen was bleibt halt immer hängen.

Cancel Culture als Anglizismus des Jahres?

2020 spekulierte ich noch, ob die Cancel Culture ein Kandidat für den Anglizismus des Jahres werden würde. Es kam aber anders, das Corona-Virus hinterließ seine Spuren auch in diesem Wettbewerb, der Lockdown setzte sich (zurecht) durch. Sprachlich interessant ist, dass sich der Anglizismus im Deutschen mir nichts, dir nichts verbreitet hat. Ersatzbegriffe wie Absage-, Lösch- oder Zensurkultur konnten sich nicht etablieren. Ich vermute, dass wie so oft die Knackigkeit der beiden Zweisilber verbunden mit dem Alliterativen desselben Anfangsbuchstabens dafür veranwortlich sind.

Ich persönlich frage mich, wo die Toleranz bleibt? Wo die Pluralität? Wird nicht umgekehrt gern Vielfalt gefordert? Warum nicht auch hier? Das hat ein Geschmäckle und riecht nach Doppelmoral. Ich finde Befürworter einer Cancel Culture piefig, puritanisch und politisch überkorrekt. Lass doch Eckhart und Nuhr ihre Witze machen. Wenn es jemandem nicht gefällt, könnten er oder sie weghören. Zu versuchen, andere über moralische Empörung zum Schweigen zu bringen, ist für meine Begriffe kleinkariert.

P.S. Weil immer mehr Beitragsschreiber durchschaut haben, dass einem durch die automatische Vervollständigung die bestplatzierte Überschrift verraten wird, habe ich mich bei dem umkämpften Begriff der Cancel Culture entschieden, mich in der Überschrift von den Talking Heads inspirieren zu lassen („Psycho Killer“), meiner Vorliebe für Alliteration den Vorzug zu geben und die französische Ergänzung des im Deutschen Naheliegenden „Was ist das?“ zu wählen.

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