Das Partizip Präsens setzt sich als Mittel des Genderns durch. Lesende, Forschende, Kandidierende etablieren sich auf breiter Front. Dem Texter mit Verständnis für Unterscheidung, dem Wunsch nach Genauigkeit und Sinn für Schönheit bleiben nur wenige Auswege. Tipps für Jahre der Not.
Lesende ist Deutsch für Analphabeten

Logik ist klar: Leser und Lesende bezeichnen etwas anderes.

Überall, auch in München, wo demnächst der Oberbürgermeister gewählt wird, werden Fakten geschaffen. In meinen Wahlunterlagen grüßen mich Kandidierende, damit im behördlichen Sprachgebrauch nicht mehr zwischen Kandidaten und Kandidatinnen unterschieden werden muss, um beide Geschlechter anzusprechen.

Mark Felix Serrao, Korrespondent der NZZ, twittert dazu:

Diese Genderei («Kandidierende») mag sich in bestimmten Milieus durchgesetzt haben, aber ich würde tippen, dass sie weite Teile der wahlberechtigten Bevölkerung nur nervt.
Sie nervt in der Tat, aus Gründen, wie wir gleich sehen werden, doch nun ist sie halt da, um ein Wort der Bundeskanzlerin sinngemäß anzuwenden, macht aber sprachlich Ärger. Ein Beispiel: Nach der Wahl in Hamburg am vergangenen Wochenende meldete die dortige Wahlbehörde:
Gewählte Kandidierende
Hier sieht man sehr schön, welches logische Unheil – neben ästhetischen Fragen – die aktiven Partizipien (hier: Kandidierende) als Ersatz für den Kandidaten mit sich bringen. Ein Kandidierender kann gewählt werden, kandidiert aber nach seiner Wahl nicht mehr, ist also kein Kandidierender mehr. Die Wahl als Zeitpunkt der Entscheidung beendet den Zeitraum der Kandidatur.
Kandidierende: Korrekt, aber schlimm

Gewählte Kandidierende – Die Zeit verhindert diese Formulierung

Was ist der Unterschied zu
Verspäteten Reisenden?
Die Reisenden sind noch unterwegs, während ihrer noch andauernden Fahrt verspäten sie sich – hier also kein Widerspruch.

Ein Lesender ist weniger als ein Leser

Die Ansprache hat sich nun endgültig gewandelt: Aus Lesern wurden im ersten Schritt die redundanten, aber Höflichkeit verratenden Leser und Leserinnen und im zweiten die Lesenden. Für mich klingt es infantil, nach Analphabeten, die sich mühsam Buchstaben für Buchstaben zusammenreimen müssen, um dann schließlich irgendwann den Sinn der Wörter zu begreifen.
Neben das Geschmacksargument tritt auch ein sprachliches: Ein Verb zu substantivieren galt immer als Notlösung, wenn ein Begriff fehlte. In diesem Fall ist es umgekehrt: Begriffe existieren, dürfen aber aus Gründen der politischen Korrektheit nicht mehr verwendet werden. Jemand könnte beleidigt sein oder sich ausgeschlossen fühlen.
Von der Logik her müsste man sagen: Der Lesende liest gerade, der Leser vielleicht vorhin oder nachher wieder. Lesend bin ich nur, solange ich lese. D.h. diejenigen Leser, die gerade nicht lesen, sind dann keine. Die beiden Begriffe bezeichnen nicht dasselbe: Sie können auch ein Leser sein, wenn sie gerade nicht lesen.
Selbst wenn man den Lesenden zähneknirschend durchwinkt: Ich lade Sie ein, das Muster weiterdenken. Aus Fernsehzuschauern würden Fernsehzuschauende, aus Radiohörern Radiohörende und aus Steuerzahlern Steuernzahlende. Oder aus Wählern Wählende. In Leipzig Connewitz wurden kürzlich tatsächlich schon Demonstranten in einem Tweet der Polizei Demonstrierende. Und an der Uni Bayreuth gibt es als folgerichtige Übertragung Forschende analog zu den Studierenden. Ob Forscher auch nach Feierabend noch Forschende sind – s.o.

Tipp 1 für Mitarbeitende etc. – das treffende Wort

Bevor Sie Mitarbeitende schreiben, um Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu vermeiden, wie es z.B. die Burkhalter Gruppe tat, erinnern Sie sich an das treffende Wort: Beschäftigte. Die Erinnerung an das treffende Wort gehört zu den Grundeigenschaften des Texters. Das Verfahren lohnt, wird aber beim Gendern erfahrungsgemäß an Grenzen kommen.

Gehweggehende – Passanten

Mit den Gehweggehenden glänzte die Berliner Polizei an Silvester. Die Passanten standen dem Schreiber, äh, Schreibenden wohl auf die Schnelle nicht zur Verfügung, womöglich stand er noch unter dem Einfluss der letzten Gender-Schreibweisenschulung. Aber das ist nur Spekulation. Andere Twitternutzer glaubten an Ironie.
Wenn Sie im Gedächtnis nach Varianten kramen, werden Sie feststellen, dass es derer viele gibt. Nur sind manche aufgrund allgemeiner medialer Wortschatzverengung und herrschender Moden und Vorgaben ins Hintertreffen geraten. Die vom Menschen weitgehend verdrängten Passanten wären dafür ein Beispiel. Sie haben allerdings den klitzekleinen Nachteil, dass Sie sie strenggenommen gendern müssten. Fußgänger und Fußgängerinnen sind schwergängiger, Passanten und Passantinnen dagegen verbieten sich. Ich bin zuversichtlich, dass Passanten keinen Shitstorm auslösen würden.

Tipp 2 für Lesende etc.: Nach Zielgruppen texten

Seien wir realistisch: Die Schlacht ist geschlagen, der Krieg verloren. Die Beispiele zeigen, dass via Medien, Politik und Verwaltung sowie öffentliche Institutionen (wie Polizei, Schule, Uni) politisch korrekt gegendert wird. Auch wenn in der Mehrheit der Bevölkerung nach meiner empirischen Erfahrung kein Hahn nach den neuen Formen kräht, werden sie in vorauseilendem Gehorsam praktiziert, gewissermaßen als eine Revolution von oben.
Zu meiner Berufsauffassung gehört, dass man als Texter Dinge nicht ignorieren kann, sondern dem Kunden Lösungen anbieten muss. Der Sprachpraktiker wird sich fügen müssen, will er nicht Auftraggeber und/oder Adressaten verärgern oder gar vergraulen. Meine Prognose lautet, dass dieser Prozess locker eine, eher zwei Generationen andauern wird: Die erste führt das Gendern ein und praktiziert es, eine zweite ist hoffentlich vernünftiger und schafft es wieder ab. Macht zusammen 50 Jahre.
Was also in der Zwischenzeit tun?
Neben der Suche nach Synonymen wäre eine zweite Möglichkeit, sich auf die Zielgruppe einzustellen und nach Alter zu differenzieren. Das Beispiel zett oben, einem Zeit-Ableger für junge Leser, zeigt, dass sich eine neue Generation im Sprachgebrauch herauskristallisiert, die das Gendern per Partizip gewohnt ist und wohl auch für richtig, sinnvoll und wünschenswert hält, allein schon, weil sie daran gewöhnt ist. Jüngere Leser unter 30 adressieren Sie also mit Lesende, weil sie damit sozialisiert sind und diese Ansprache wahrscheinlich so erwarten. Alle Älteren können Sie weiterhin mit Lesern, ggf. Lesern und Leserinnen ansprechen.

Tipp 3 für Lesende etc: Der redaktionelle Hinweis

In einem meiner letzten großen Projekte, einem Geschäftsbericht für einen Versorger, haben wir – auf Wunsch des Kunden, nicht auf meine Empfehlung – mit einem redaktionellen Hinweis im Inhalt gearbeitet. Darin haben wir erklärt, dass mit dem generischen Maskulinum beide natürlichen Geschlechter gemeint sind. Das ist nicht übermäßig elegant, aber es funktioniert, weil es Problembewusstsein zeigt und eine klare Lösung bietet. Ich argwöhne allerdings, dass sich diese Möglichkeit nicht mehr lange halten wird, weil der öffentliche Druck zu groß wird.

Fazit für Lesende, Mitarbeitende, Kandidierende

Mit einer Ansprache je nach Zielgruppe zeigen Sie Einsicht für eine der schönsten Weisheiten für Medienmacher:
Der Köder muss dem Fisch und nicht dem Angler schmecken.
In diesem Sinne: Frohes Schaffen, mit den besten Wünschen für stets die richtigen Entscheidungen und guten Ideen.
Überlassen wir das Schlusswort Don Alphonso, dem alten Provokateur, Verzeihung: Provozierenden, der schelmisch fragt: Müssen Schmarotzer heute nicht Schmarotzende heißen?
P.S. Eine erste Bestandsaufnahme zu den Partizipien finden Sie in einem Blogeintrag von 2018.
5 Responses to Was tun mit Lesenden, Forschenden, Kandidierenden?
  1. […] das Partizip Präsens dafür gedacht ist, vorgehende Tätigkeiten zu bezeichnen. Seine merkwürdige Zwitterstellung als Substantiv ergibt sich in letzter Zeit nur daraus, dass eindeutige Geschlechtszuweisungen vermieden werden […]

  2. Comment *wichtig wäre, dass es Richtenden am Ende noch gelingt zwischen Mordenden und Totschlagenden zu unterscheiden!

    • Da Mörder empirisch betrachtet meist Männer sind, können wir uns bei diesen und den Totschlägern die gegenderte Form sparen. Anders sieht es natürlich ibei denen aus, die Recht sprechen sollen. 😉

  3. Die Burkhalter-Gruppe ist ein Schweizer Unternehmen. Die Eidgenossenschaft als Körperschaft selbst untersagt auf Bundesebene das Gendern und bevorzugt, wo es geht, die Nennung beider Geschlechter. Kantonal sieht es anders aus. Da wo die Linken und Grünen das Sagen haben (nach der Wahl jetzt nicht mehr, Gottseidank) wie zB. in Zürich und St. Gallen, wird auch auf kantoner Ebene gegendert, was das Zeugs hält. Da liest man dann auch mal von Arbeitgebenden, Arbeitnehmenden, etc.. Je nach politischer Einstellung und Vorgabe

  4. Danke, guter wohltuender Beitrag. Allerdings sehe ich das Sprachgendern eher als einen Versuch dümmlich modernistischer Gleichschaltung. Wer nicht ‘partizip’iert ist kein Partizipierender. Ich werde nicht teilnehmen an dieser Veranstaltung. weder politisch, gramnatisch noch intellektuell. Es geht mir – am Rande – schlicht auf den


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