Ankerzentren für Flüchtlinge sind in aller Munde. Doch woher kommt die Bezeichnung eigentlich – und wofür steht sie?
(2.6.2018, aktualisiert 15.1.2019) Heute mal wieder was aus der Abteilung praktisches Wissen mit Nutzen für den Alltag. Wenn Sie in den letzten Tagen Nachrichten gesehen, gehört oder gelesen haben, kamen Sie kaum um den Begriff Ankerzentren herum – und durften ein neues Wort in den Medien begrüßen. Sachlich gesehen werden die geplanten Lager für Asylantragsteller damit bezeichnet.
Vielleicht haben Sie sich bei der Gelegenheit auch gefragt, warum man eigentlich eine Metapher aus der Seefahrt verwendet? Sicher, der Trend zu Euphemismen spielt hier rein. Misstrauische Denker wissen: Verschleiern ist Trumpf, denn so kann niemand mehr auf den ersten Blick den wahren Zweck einer Einrichtung, Ware oder Dienstleistung erkennen. Wissen Sie zum Beispiel, warum Remondis, Talanx oder Envivas so heißen und was sich dahinter verbirgt?
Daneben ist die Anker-Metapher nicht ganz falsch. Wer nach Deutschland kommt, so könnte man interpretieren, soll hier eine erste Anlaufstelle finden, erstmals seinen Anker im neuen, sicheren Hafen Deutschland werfen, um im Bild zu bleiben. Doch wäre der Anker nicht gleichzeitig zynisch gegenüber denen, die die Gefahren einer Fahrt übers Mittelmeer auf sich genommen haben? Dieser Gedanke spräche eindeutig dagegen, dass der Anker nur eine bildhafte Beschreibung sein soll. Warum also der Anker?
Ankerzentren – ein Akronym
Ich bin der Sache nachgegangen und wurde fündig. Der Anker in den Ankerzentren ist demnach ein Akronym, also ein Wort aus Anfangsbuchstaben. Der Begriff wurde mit Datum vom 14. März im Koalitionsvertrag der Bundesregierung veröffentlicht, den Sie hier herunterladen können. Auf S. 105 der PDF-Datei finden Sie ihn in Zeile 4.917. Es steht für
- An kunft
- K ommunale Verteilung
- E ntscheidung
- R ückführung
Das heißt, das gesamte Asylverfahren wird nicht nur räumlich in den Ankerzentren gebündelt, sondern auch gedanklich im Namen. Das n müsste man innerhalb der Großbuchstaben kleinschreiben, weil es noch zum ersten Buchstaben gehört.
So ganz eindeutig ist diese Zurordnung allerdings nicht. Die Wikipedia bietet als Erklärung, AnkER stehe für Ankunft, Entscheidung und Rückführung. Die kommunale Verteilung fehlt in dieser Variante, obwohl sie in Zeile 4.917 ausdrücklich genannt wird In Zeile 4.914 dagegen steht A für Aufnahme statt für Ankunft. Naja, wahrscheinlich waren die Koalitionäre nach langen Verhandlungen müde.
Ankerzentrum bei der Unwort-des-Jahres-Wahl
Aktualisierung, 15.1.2019: Bei der Wahl zum Unwort des Jahres 2018 belegt das Ankerzentrum Platz 3. Sieger ist übrigens Anti-Abschiebe-Industrie. Zur Begründung schreibt die Jury:
Durch die inzwischen fast durchgängige Klein- und Zusammenschreibung (= Ankerzentrum) wird der Ausdruck zu einem aus unserer Sicht unangemessenen Euphemismus, der die komplizierten Prüfverfahren in diesen Zentren und zudem die strikte Aufenthaltspflicht für Flüchtlinge verschleiert, indem die positiven Assoziationen des Ausdrucks Anker (u.a. Festmachen in einem Hafen, Sicherheit, zudem christliches Symbol der Hoffnung) gezielt ausgenutzt werden.
Das ist eine ziemlich empfindliche, um nicht zu sagen übersteigerte Interpretation, wie ich finde, denn Verschleierung ist der Zweck jedes Hüllworts. Das steckt bereits im Begriff, wenn man sich die Mühe macht, den Euphemismus einzudeutschen. Ich bezweifle, dass die Erfinder des Ankerzentrums derart zynisch sind, wie diese Auslegung unterstellt. Demgegenüber vermute ich, dass man etwas Freundliches und vor allem Bildhaftes für die erste Anlaufstelle in Deutschland haben wollte.
Die politische Berichterstattung kennt so schöne Metaphern. Wie finden Sie die Atempause?
[…] Platz 3 landeten übrigens die Ankerzentren, die hier letzten Sommer ebenfalls schon Gegenstand der Betrachtung […]
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