(5.5.18, Aktualisierung 13.5.18, 14.11.20) Ich hatte kürzlich eine Besprechung mit einem Panamesen, der von der Natur, genauer dem Dschungel, seines Heimatlandes schwärmte. Er sprach englisch und benutze das Wort biodiversity.
Bio-Diversität
Diversity ist viel mehr – oder doch nicht?
Jetzt wird sich jemand melden und sagen, dass sich hinter dem Begriff Diversity viel mehr verbirgt als Vielfalt. Auf Nachfrage, was das denn sein könne, wird nichts kommen. Was mich daran erinnert, dass ich einst einem anderen Blog-Eintrag vorschlug, das englische Wort administration sinnvoller mit Regierung als mit Administration zu übersetzen, wie es so oft getan wird. Worauf jemand einwandte, Administration sei noch viel mehr, auch wenn er nicht sagen konnte, was. Ich sehe das sprachpraktisch: Im Deutschen spricht man nicht von Administration, sondern von einer Regierung. Das sieht übrigens auch der Spiegel’sche Zwiebelfisch so.
Auf den ersten Blick sieht es tatsächlich so aus, als bedeute Diversität mehr, wenn man in die Wikipedia schaut, auf den zweiten, im Artikel über Diversität, steht dann bereits im ersten Absatz genau dieser Satz:
Häufig wird der Begriff Vielfalt anstelle von Diversität benutzt.
Nur: Wenn man es Diversität nennt, klingt es nach mehr, vornehmer, wissenschaftlicher. Oder böser formuliert: Schwülstig, pompös, aufgebläht. Vielfalt: Das ist billig und simpel, weil verständlich. Mir ist diese sprachliche Vernebelungstaktik in der Wissenschaft schon öfter untergekommen: Sage nicht klar, was Du tust, jemand könnte erkennen, wie wenig dahintersteckt.
Diversity ist in der Mitte angekommen
Was mich zum Punkt des heutigen Eintrages bringt. Neulich kam ich an einem Plakat des Lebensmitteleinzelhandelskette Lidl vorbei. Darauf prangte anlässlich der beginnenden Grillsaison der Slogan:
Hol dir die Lidl-Vielfalt.
Und ich dachte mir, wenn Lidl mit Vielfalt wirbt, ist der Trend binnen eines guten Jahrzehnts seit Verabschiedung des Antidiskrimierungsgesetzes aus der Soziologen- und Personaler-Ecke heraus- und in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Willkommen buntes Deutschland, denn Lidl hätte ja auch mit Preisen, bestimmten Produkten oder Qualität werben können.
Wie der Zufall es wollte, sah ich am 1. Mai einen Beitrag über die Mai-Veranstaltungen in der Tagesschau. Und siehe da – auch der DGB hat sich die Vielfalt auf die Fahne geschrieben. Der Slogan
Solidarität Vielfalt Gerechtigkeit
wirft zwar die Frage auf, warum der DGB ausgerechnet die Vielfalt zu seinen drei wichtigsten Anliegen zählt. Zuletzt hatte ich in Reden der Verantwortlichen Schlagwörter wie gute Arbeit, gutes Geld für gute Arbeit etc. pp. wahrgenommen, die ich für zentralere Anliegen einer Gewerkschaft halte. Aber immerhin: Die Verwendung der Vielfalt ist weiterer Beleg für meine These, diesmal in einem anderen Zusammenhang.
Wie stark sich die Diversität im medialen Sprachgebrauch ausgebreitet hat, zeigt schließlich die Worthäufigkeitskurve des DWDS, die die deutschen Zeitungen daraufhin ausgewertet hat. Das ist doch mal eine eindrucksvolle Steigerung:
Diversity – wie erreicht man sie?
Bleibt die Frage, wie man Vielfalt am besten erzeugt, begünstigt oder erhält, wenn man sie als solche für einen Wert hält. Lässt sie sich staatlich per Gesetz verordnen oder ist es der Zwang der Umstände, der immer neue Nischen erzeugt – und damit automatisch Vielfalt mit sich bringt?
Praktiziert wird beides – mit unterschiedlichen Konsequenzen. Wenn man künstlich jemanden begünstigt, gibt es unvermeidlich jemand anderen, der dadurch benachteiligt wird. – Die zweite These wäre im Einklang mit den Erkenntnissen des Münchner Evolutionsbiologen Josef Reicholf, dessen vorzügliches Buch über die Mechanismen der Evolution ich kürzlich las. Sie bedeutet faktisch einen Vielfaltszuwachs, der im gesetzlichen Verfahren nicht notwendigerweise gegeben ist, sondern das primär den Status Quo verteidigt. – Lidl geht den Weg über Angebot und Nachfrage – ich bin gespannt, ob er sich auszahlt.
(Aktualisierung, 18.5.18). Manchmal verblüfft mich meine Trendnase. Letzte Woche habe ich den Beitrag veröffentlicht. Gestern gewann Israel den Europäischen Gesangswettbewerb, heute titelt Spiegel Online:
Für Israel. Für Vielfalt.
Der inhaltliche Zusammenhang in der Schlagzeile erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Der Autor zitiert die Siegerin Netta Barzilai, die offenbar als Kind unter ihrer Korpulenz litt, mit den Worten:
Danke, dass ihr das Anderssein gewählt habt! Danke, dass ihr die Vielfalt gefeiert habt!