Es wird wieder zur Wahl zum Jugendwort des Jahres aufgerufen. Was taugt die Longlist? Der Test an meiner Tochter stützt die Kritik am Wettbewerb. (Lesezeit: 3-4 Minuten)
(14.10.2017, Aktualisierung 17.11.17) Die Anglifizierung des Deutschen lässt sich nicht nur in der Werbung, sondern vor allem in der Jugendsprache ablesen. Wenn meine Tochter, knapp 13, eine Anekdote aus der Schule erzählt, folgt darauf ein lol; wenn etwas schief gegangen ist, heißt es yolo. Wer es auf Instagram oder YouTube zu vielen Followern und Likes gebracht hat, ist voll fame. Wer dagegen unecht wirkt oder handelt, ist voll fake. Die Videos handeln oft von Challenges oder Battles, wobei sie interessanterweise die Bedeutung der letzten beiden nicht genau kannte, weil sie noch nicht im Englischunterricht behandelt wurden. Sie hatte nur eine ungefähre Vorstellung davon, was damit gemeint sein könnte: Wettbewerb und Duell waren ihre Antworten auf meine Nachfrage.
Insofern kann es nicht überraschen, dass die meisten Vorschläge auf der Longlist für den Wettbewerb um das Jugendwort des Jahres 2017 einen englischen Hintergrund haben und mit ihm spielen. Das zweite wichtige Standbein sind Verballhornungen des Zeitgeistes. Textmarkeraugenbrauen – wenn ich diesen Beitrag in einigen Jahren noch mal lese, aus Mädchen Frauen geworden sind und Mädchen längst ganz anderen Moden folgen, werde ich wieder wissen, wie die dicken aufgemalten Balken im Gesicht aussahen. Da die Liste also recht amüsant und wertvoll ist, habe ich abweichend von meiner bisherigen Berichterstattung beschlossen, meine Vorbehalte zu überdenken und auch der Vorauswahl schon einen Beitrag zu widmen – mit Realitätscheck an einer Testperson aus der Zielgruppe.
Die Kritik zu Langenscheidt, Jury, Rankings und Relevanz
Man kann zur Wahl viel Kritik hören.
- Etwa, dass der Langenscheidt-Verlag damit sein Buch über Jugendsprache bewerben will. Schachspieler wissen, dass die guten Zügen doppelt wirken: Zur eigenen Entlastung und gegnerischen Bedrohung. Warum soll also die Werbung für ein Buch schädlich sein, wenn dabei gleichzeitig ein Nutzen für die Öffentlichkeit entsteht?
- Was derartige Rankings überhaupt sollen? Rankings sind Teil eines Wettbewerbs und schaffen Spannung. Wo ist der Unterschied zu einem Formel-1-Rennen oder einem 10.000 m-Lauf? Inhaltlich müsste man erkennen, dass ein Wettbewerb eine Momentaufnahme zum Sprachgebrauch ist und den Zeitgeist einfängt. So gesehen hat die Wahl zum Jugendwort des Jahres wohl selbst ein Erkenntnisinteresse.
- Dass da sehr alte Leute in der Jury sitzen. Das Alter der Jury ist aus meiner Sicht nicht das größte Problem, da die Herrschaften ja alle einen fachlichen Bezug zum Thema haben. Schwerer wiegt die Tatsache, dass jede Jury eine Duftmarke setzen will – und damit tendenziell eine gewisse Subjektivität in ihre Arbeit Einzug hält.
- Dass die Wahl die Jugendsprache nicht wiedergibt. Dies letzte Argument scheint mir am berechtigtsten. Wenn Sie die Liste unten durchgehen, werden Sie feststellen, dass manche Vorschläge nur als Witz oder Kalauer funktionieren, nicht aber als ernsthafter Beitrag zur Jugendsprache. Napflixen z.B. Als Wortspiel auf Netflix nett gedacht, aber schon gesprochen kaum denkbar. Ich napflixe jetzt? No way, José. Und wissen alle, was ein nap ist? Oder tinderjährig. Ein Oli-Welke-Kalauer, oder? Andererseits dauert der Diffusionsprozess manchmal lange, ehe Worte sich nach der Wahl durchsetzen. So hat Yolo nach seiner Auszeichnung 2012 drei Jahre gebraucht, um in der Öffentlichkeit anzukommen, ist nun aber allgegenwärtig. Auch „läuft bei dir“, der Sieger 2014, hat sich in der Bürosprache voll etabliert – inzwischen nicht nur unter Jüngeren. Umgekehrt scheint man sehr auf Spitzes und Schrilles zu setzen, während das, was schon breit in Benutzung ist, fehlt. Um den Beispielen meiner Tochter noch eins hinzuzufügen: Ein isso hätte ich gut gefunden, das wurde aber schon letztes Jahr Dritter.
Der Test: von trumpeten bis tinderjährig
Freunde des Hauses wissen, dass ich früher Reporter war und an die Kraft der Empirie glaube. Ich habe daher die Vorschläge einem Realitätstest unterzogen, und zwar an meiner Tochter. Das Ergebnis habe ich direkt hinter jedem Begriff vermerkt.
- trumpeten (große Versprechen machen, ohne an die Folgen zu denken), unbekannt
- Ahnma (versuche, es zu verstehen), unbekannt
- selfiecide (Tod durch den Versuch, ein Selfie zu machen), unbekannt
- geht fit (geht klar, passt), unbekannt
- unfly (uncool), unbekannt
- Noicemail (nervige Sprachnachricht), unbekannt
- tacken (Nachrichten schicken, während man auf dem Klo sitzt, Mischung aus texten und kacken), unbekannt
- lit (sehr cool), bekannt, „okay“
- Bruh (Abwandlung von Bro, Bruder), bekannt
- Squad (extrem coole Gruppe), bekannt
- vong (von), bekannt
- unlügbar (definitiv, unbestritten), unbekannt
- I bims (Ich bin), bekannt, „cool“
- looten (einkaufen gehen, aus dem Englischen für „Beute“), unbekannt
- fernschimmeln (nicht am gewohnten Platz chillen), unbekannt
- Dab (Tanzfigur, bei der eine Hand vors Gesicht und die andere schräg nach oben gehalten wird), bekannt. Meine Tochter sagt, es sei eine Geste, keine Tanzfigur.
- napflixen (ein Nickerchen machen und dabei einen Film laufen lassen), unbekannt
- belastend (unschön, unangenehm), ungebräuchlich
- GEGE (Good Game, gg, drückt Zufriedenheit aus, aus dem Computerspiele-Jargon), unbekannt
- Teilzeittarzan (Jemand, der sich hin und wieder wie ein Affe verhält), unbekannt
- nicenstein (perfekt, allen Wünschen entsprechend), unbekannt
- emojionslos (ohne Emojis), unbekannt
- sozialtot (nicht in sozialen Netzwerken angemeldet), unbekannt
- gefresht (ohne Durst, sitt), unbekannt
- Merkules (Mischung aus Angela Merkel und Herkules), unbekannt
- fermentieren (kontrolliertes Gammeln), unbekannt
- Was ist das für 1 Life? (Ausdruck von Erstaunen in einer außergewöhnlichen Situation), „das sag ich so nicht, aber das mit 1 ist gut.“
- schatzlos (single), unbekannt
- tinderjährig (alt genug, die App Tinder® zu nutzen), unbekannt
- Textmarkeraugenbrauen (stark betonte, akkurate Balken anstelle von Augenbrauen), unbekannt
Sieben Treffer von 30 Vorschlägen: Das macht 23% – die Quote könnte höher sein. Ich räume ein, dass meine Stichprobe klein war und einen regionalen Bias hat (München). Das heißt, an einem anderen Ort hätte das Ergebnis anders ausfallen können. Es mag auch sein, dass sie für einige Wörter zu jung ist. Aber immerhin: Meine Tochter stammt aus der Zielgruppe und sitzt nicht am grünen Tisch. Die Argumente gegen eine erwachsene Jury erhalten dadurch Gewicht.
Die endgültige Entscheidung ist öffentlich. Sie können noch bis zum 15. November abstimmen. In einer Facebookgruppe gibt es laufend weitere Informationen zum Jugendwort des Jahres, meinen Beitrag zum letztjährigen Wettbewerb finden Sie hier.
Nachtrag, 17.11.17: And the winner is: I bims. Sehr zum Entzücken meiner Tochter.
[…] ich nicht erwartet. Trend verpennt? Aufkommende Wörter, z.B. nicenstein, aus der Longliste zum Jugendwort des Jahres 2017, erzielen vier- bis fünfstellige […]
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