Warum Stühle, Bücher oder Besen kippen können (und Schnäpse gekippt werden), aber keine Gesetze.

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Der Bilderrahmen hängt schief, wenn ein Verbot kippt.

Diesen Beitrag hätte ich schon vor fünf Jahren schreiben können. Das wollte ich auch, doch andere Themen waren jeweils dringlicher. Doch jetzt ist es soweit. Und Achtung, das folgende Beispiel ist beliebig, der allgegenwärtige amerikanische Präsident ist NICHT das Thema, sondern es geht mir um das Verb der Schlagzeile: kippen.

US-Demokraten wollen Trumps Einreiseverbot kippen

titelte Spiegel Online kürzlich einen Beitrag. (s. Bildschirmfoto)

Der Trick mit der Tonalität

Warum geht es mir um das Verb? Es ist ein Beispiel für die sog. Tonalität, das Sprachniveau, das ich für ein Medium oder einen Beitrag in ihm wähle. Die Tonalität muss, wie man so schön (oder schlecht) sagt, stimmig sein. Damit ist einheitlich gemeint, wenn man es nicht im Germanistenjargon formulieren will. Und das heißt, alle Bestandteile eines Satzes, die Summe der Sätze in einem Beitrag sowie die Summe der Beiträge eines Mediums sollen idealerweise wie aus einem Munde klingen. Für diese Blattsprache sorgt in einem größeren Medium wie Spiegel Online ein Textchef; u.a. vereinheitlicht er die Eigenheiten der beteiligten Autoren. Doch wie das Beispiel zeigt, kann die Tonalität selbst innerhalb eines Satzes kippen (har!).

Synonyme machen es stimmig

Warum ist das hier so? Weil es um das Thema Politik geht. Der Ton des Beitrages muss dazu passen, also ernst sein. Nicht gesetzt, nicht spröde, aber ernst. Und das fehlt hier: Wenn ich im Zusammenhang mit dem Einreiseverbot von kippen spreche, ist der Ausdruck unangemessen. Kippen ist zu locker, zu lässig, zu leger, ungefähr so wie kassieren es auch gewesen wäre.

Was könnte man stattdessen sagen? Mir fallen in kurzer Folge diese Synonyme ein:

stoppen, verhindern, zurücknehmen, zurückziehen, rückgängig machen

Werfen wir einen Blick in den Duden: Er bietet noch das etwas längere zum Scheitern bringen. Wenn man den Platz hat, warum nicht. Online wäre das im Lauftext in jedem Fall eine Option.

Verschärfte Unstimmigkeit

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Wenn billigen auf kippen trifft, wird es explosiv.

Noch stärker kommt die Unstimmigkeit in meinem zweiten Beispiel heraus, das von der Webseite der Tagesschau stammt (Keine Sorge, Frau Daubner hat auch schon in der Fernsehfassung vorgelesen, dass Gesetze gekippt werden sollen).

Israel billigt umstrittenes Siedlergesetz

heißt es in der Überschrift.

Am Ende des Teasers steht dann:

Israels höchstes Gericht könnte das Gesetz noch kippen.

Billigen, das Verb in der Schlagzeile, ist ein formelles Verb, das der typischen Gesetzessprache und dem Juristendeutsch entstammt. Wenn ich ein Verb auf diesem gehobenen Sprachniveau verwende, entsteht mit dem informellen kippen ein scharfer Gegensatz, der auf Anhieb unstimmig wirkt. Hier hätte der Texter auf jeden Fall eine angemessene Alternative verwenden müssen. Welche – siehe oben.

Zur Ursache kann ich nur die üblichen Vermutungen anstellen, die mir aus der beruflichen Praxis geläufig sind: Zeitnot, Nachlässigkeit, Neigung zum schematischen Denken (hier: in Wendungen). Wenn man sich dessen bewusst ist, ist schon was gewonnen. In diesem Sinne: Danke für’s Lesen bis hierher. Jetzt fehlt nur der zweite Schritt: Das Gelernte anzuwenden.

Sie haben Lust auf und Zeit für eine weitere Einheit? Stilistisch ebenso lausig, aber populär, ist die Verwendung des Verbs daherkommen.

One Response to Schnäpse, nicht Gesetze kippen
  1. […] in unseren Qualitätsmedien die Neigung besteht, dicht zu machen statt zu schließen, oder zu kippen wenn etwas rückgängig zu machen ist, könnte ich mir auch deutlich kräftigere Varianten […]


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