Bleib unbeugsam – was als geistige Haltung vielen ein Zeichen von Charakter und Persönlichkeit ist, hat in der Sprache unangenehme Folgen: Die Beugung stirbt aus, der Dativ ist bedroht.

Der Nominativ tötet den Dativ

Ungebeugt und hilflos: Plakatkampagne in München

(12.11.2016) Manchmal erhalte ich Einsendungen von Lesern, die mir Tippfehler in Medien u.ä. schicken, mit der offenen oder auch stillen Aufforderung, darüber etwas zu bringen. Das ist ein Missverständnis: Dieses Blog existiert nicht, um schenkelklopfend zu feixen und Schadenfreude zu befeuern. Das mag kurzfristig komisch sein, aber letztlich sind es unbedeutende Einzelfälle, die bestenfalls belegen, dass nicht mehr so sorgfältig gearbeitet wird. Dieses Blog will ein Seismograph sein; Dinge, denen ich einen Beitrag widme, sind hoffentlich über den Einzelfall hinaus Phänomen mit Bedeutung und größerer Fallhäufigkeit.

Zum Beispiel dieser Eintrag heute zur Vermeidung des Dativs, weil Eigennamen nicht gebeugt werden. Schauen Sie mal auf dieses Plakat, das ich vor einiger Zeit in München geklebt fand.

Ausgebildet in Echte Hilfe.

heißt der Slogan einer Kampagne der Siemens-Betriebskrankenkasse (SBK). Was ist hier passiert? Der Texter möchte eine Analogie zur Ersten Hilfe bilden. Erste Hilfe ist ein feststehender Begriff. Häufig werden diese nicht gebeugt, also in den Endungen angepasst, wenn sich der Fall ändert. Denken Sie an die Zeitschrift Bunte. Wie oft lesen Sie heute, dass Promi X der Zeitschrift Bunte ein Interview gegeben hat. Der Eigenname ist hier wichtiger als der Dativ, in dem die Zeitschrift in ihrer Eigenschaft als Satzobjekt steht. Stellen Sie sich vor, besagter X hätte mit einer buntgefleckten Kuh gesprochen: Sie hätten gelesen, dass er der Bunten (wem? Dativ!) das Interview gab. Und jetzt mal im Ernst, liebe Leser: So ist es richtig. Die krampfhafte Vereinheitlichung feststehender Begriffe („durchgehende Kommunikation“)  ist grammatisch falsch und ästhetisch beleidigend. So drücken sich sonst nur Kinder oder Erwachsene aus, die erst Deutsch lernen; Zugereiste, wie der bayerische Volksmund spricht. Echte Hilfe soll als Begriff offenbar so feststehen, dass er schon nicht mehr dekliniert wird. Mich überzeugt das nicht, ich bevorzuge gebeugt:

Ausgebildet in Echter Hilfe.

Dass es völlig unproblematisch anders geht, beweist ausgerechnet der Claim eines öffentlich-rechtlichen Senders:

Mit dem Zweiten sieht man besser.

Stellen Sie sich die verheerende Variante vor:

Mit das Zweite sieht man besser.

Dativsterben im Alltag

Zurück zum Seismographen. Sie meinen, das sei eine Petitesse? Und der Dativ dem Genitiv sein Tod? Keinesfalls. Es geht auch ohne Dativ, und der Nominativ tötet der Dativ. Dieses Rohdeutsch ist geübte Praxis, die nicht mehr nur Medien betrifft, sondern bereits beim Nachwuchs im Schulalltag beginnt. Die Kids verlernen ihn, weil er weniger genutzt wird. Regelmäßig spricht etwa meine Tochter davon, dass sie bei Herr Schroeder in Latein wieder dieses und jenes gelernt habe. Ich weise sie höflich, aber hartnäckig darauf hin, dass der Dativ hier das Wahl der Mittel ist, es also Herrn Schroeder heißen muss. Meine Tochter, Schülerin in der sechsten Klasse eines Münchner Gymnasiums, versetzt, das sei ihr bekannt, doch die Mehrheit ihrer Klasse nutze den Nominativ, weswegen sie sich dem anschlösse.
Zum Verständnis müsste man ergänzen, dass von 27 Kindern nur in neun Fällen beide Eltern deutsch sind; die anderen 18 haben mindestens einen ausländischen Elternteil. D.h. etwa zwei Drittel der Klasse haben einen sog. Migrationshintergrund und benutzen den Dativ vorwiegend ohne -n. Hier Abhilfe zu schaffen, wäre (Achtung, Kalauer:) Echte Hilfe. Denn vier Fälle mit ihren verschiedenen Endungen in Singular und Plural zu beherrschen, gehört fraglos zu den Feinheiten aus der Abteilung „Deutsche Sprache, schwere Sprache.“ Oder wir denken in die entgegengesetzte Richtung und stellen uns pragmatisch die Frage, ob wir das Dativ-n wirklich brauchen? Vielleicht ist das ein Punkt für die nächste Kultusminister-Konferenz, wenn die nächste Rechtschreibreform beschlossen wird. Ein Unterschied besteht zwischen beiden Beispielen: Der Texter der SBK-Kampagne kennt den Unterschied zwischen Nominativ und Dativ. Doch der Effekt ist derselbe: Auch er verschmäht den Dativ.
In einem der nächsten Beiträge werde ich versuchen, die Ursachen für den aussterbenden Dativ zu analysieren. Bis dahin noch ein paar weitere Beispiele.
One Response to Ausgebildet in Echte Hilfe
  1. […] den Unterschied zwischen Leere und Lehre kennt? Falls nicht, was ich angesichts der desolaten Deutschkenntnisse in der Klasse meiner Tochter vermute, müsste man nämlich zu der Schlussfolgerung kommen: Vergebene Liebesmüh`. Wortspiele, […]


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