In einem aktuellen Roman fand ich einen Konjunktiv, den ich ausgestorben glaubte: kennte. Warum er korrekt ist, was er bedeutet, und was man meistens sagt.
(28.10.2016) Schon lange, genauer seit Beginn dieses Blogs, plane ich einen Beitrag über den Konjunktiv. Sie wissen schon, die Möglichkeitsform. Denn bei Realis und Irrealis in indirekter Rede, aber auch bei anderen Gelegenheiten geht es in Deutschlands Medien drunter und drüber; nicht nur bei den modernen Online-Legasthenikern, sondern auch in Büchern. Zwischen gehe und ginge, laufe und liefe, spreche und spräche, stehe und stünde oder sehe und sähe kann kaum jemand mehr fachgerecht unterscheiden.
Oft scheint die Intuition die Instanz zu sein, schlimmstenfalls ist es „Geschmacksache“. Aber nein, das ist es nicht. Es gibt Regeln, doch leider auch viele Ausnahmen. Das ist in einem Blog schwer darzustellen. So sammelte ich Beispiele in loser Folge und rauer Menge, doch ein roter Faden entstand nicht. Mehrere Versuche verwarf ich.
Daher möchte ich heute zu den Anfängen zurückkehren und ohne größere Systematik einen Fall nennen, ein positives Beispiel. Ich habe beschlossen, einen Konjunktiv des Monats Oktober zu küren, für eine Verbform, von der ich wusste, dass es sie gibt, die ich jedoch seit Jahren nicht mehr gelesen resp. gehört habe – weder gedruckt noch gesprochen, außer privat im Scherz –, ja fast vergessen und als ausgestorben vermutet habe.
Den Konjunktiv des Monats fand ich in der deutschen Übersetzung von „The Girls“, dem Debütroman der Amerikanerin Emma Cline, erschienen bei Hanser in der Übersetzung von Nikolaus Stingl. Auf S. 266 oben (in der gebundenen Ausgabe) gibt die Autorin eine indirekte Rede wieder, ein mitgehörtes Telefonat wird geschildert:
Was für ein Mensch denn bei Nachbarn einbreche? Bei einer Familie, die ich ein Leben lang kennte?
Kennte – das steht da wirklich. Das ist die korrekte Form für den Konjunktiv Imperfekt (Präteritum, Vergangenheit). Sie glauben mir nicht? Schauen Sie mal im Duden nach. Anlass für die Anwendung dieser raren Form: Eine wörtliche Rede wird indirekt nacherzählt. Zuerst der Konjunktiv Präsens einbreche, dann für die Vorzeitigkeit der Imperfekt: kennte. Die Frage hätte im Dialog so gelautet:
Was für ein Mensch bricht denn bei Nachbarn ein? Bei einer Familie, die ich ein Leben lang kannte?
Wunderschön. Ich bin ziemlich sicher, das gab Diskussionen mit dem Lektor und dem Korrektorat. Denn gebräuchlich ist die Form längst nicht mehr. Aber korrekt. Ich vermute, die meisten, vielleicht auch ich, hätten sie vermieden und stattdessen die zweite Frage aus der indirekten Rede herausgelöst und dafür dann den Indikativ verwendet:
Was für ein Mensch denn bei Nachbarn einbreche? Bei einer Familie, die ich ein Leben lang kannte?
Typisch im aktuellen medialen Gebrauch ist, dass meist gleich der Konjunktiv 2 (Irrealis) gebraucht wird. Das ist sachlich falsch, kommt aber oft vor, weil der Konjunktiv 1 (Realis) kaum mehr bekannt ist und nicht wenigen wahrscheinlich sogar als förmlich gilt. Entscheidet man sich für den (falschen) Irrealis, muss man allerdings einen Folgefehler für die Vorzeitigkeit machen: Dann stünde (!) da:
Was für ein Mensch denn bei Nachbarn einbräche? Bei einer Familie, die ich ein Leben lang gekannt hatte?
Folgefehler ist so zu verstehen, dass formal die Vorzeitigkeit für das Imperfekt das Plusquamperfekt ist, eine Zeitform, auf die man angesichts ihrer Sperrigkeit besser verzichtet, wenn man kann.
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