Warum das Allerweltswort Flüchtlinge eine schwache, verzagte Wahl war – und Willkommenskultur das wesentlich prägnantere Wort des Jahres gewesen wäre, das dieselbe Debatte betraf.

(12.12.2015) Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat gestern das Wort des Jahres 2015 gewählt. Die Wahl fiel auf Flüchtlinge. Sicher, der Begriff beherrschte die öffentliche Debatte. Doch unspezifischer geht es kaum. Es ist ein Allerweltswort ohne jede Prägnanz oder Besonderheit. Willkommenskultur wäre die weitaus bessere Wahl gewesen, wenn man die Einwandererdebatte betrachtet. Das aber hatten die Ösis, Verzeihung: Österreicher, schon einen Tag vorher zu ihrem Wort des Jahres gekürt, wovon die deutsche Jury wahrscheinlich wusste. Dasselbe Wort zu wählen, verbietet sich natürlich. Vor allem: Wo kämen wir denn hin, wenn wir etwas wählen, was die Ösis schon gewählt haben? (Ok, das war jetzt polemisch, spekulativ und aus bayerischer Sicht.)

Setzt das Wort Flüchtling herab?

Warum also wurde Flüchtlinge Wort des Jahres? Der Begriff sei vor allem sprachlich interessant, heißt es zur Begründung. Die Endsilbe -ling klinge herablassend und beinhalte etwas Passives. Vielleicht muss den Vorgang der Flucht nochmal genau denken. Das mit dem Passiven ist so falsch nicht. Wenn man Grund hat, sein Land zu verlassen, dann weicht man vor einer anderen (herrschenden, größeren, aktiven) Macht zurück. Auf diesen Prozess bezieht sich das Wort; woher kommt die Vorstellung, dass damit eine Passivität bezogen auf das Zielland gemeint sein könnte? Was das Herablassende angeht: Die Interpretation in diese Richtung ist einseitig. Zeigt das Gefühl, das die Endsilbe -ling ausstrahlt, nicht auch eine Hinwendung und Anteilnahme an, wie sie etwa in der Willkommenskultur steckt?

Das abstrakte Geflüchtete kann – wie im letzten Eintrag gezeigt – als Ergebnis einer Substantivierung nur eine Notlösung sein; wollte man wirklich über eine Verbform nachdenken, sollte man die Geflohenen in Betracht ziehen; unregelmäßig gebildete Verbformen wie die vom Infinitiv fliehen sind stärker als regelmäßig konjugierte. Schlimmer als die Geflüchteten sind allerdings die Schutzsuchenden. Präsens-Partizipien (also Verben in der -nd-Form, vgl. Teilnehmende vs. Teilnehmer) haben den kolossalen Nachteil, dass sie wie mit einem Klumpfuß humpeln.

Der Kniefall vor dem Zeitgeist

Ein weiteres Mal siegte also die vorauseilende Political correctness. Diese Annahme ist deswegen berechtigt, weil die Gesellschaft für deutsche Sprache auch ein Büro im Bundestag unterhält. Sobald auch nur der Anschein erweckt werden könnte, dass irgendjemand ausgegrenzt wird oder sich verletzt fühlen könnte, dass Ungleichheit droht, und sei es auch nur bezeichnungshalber, ziehen wir sofort das Schwänzlein ein und trollen uns. Die Jury macht einen Kniefall vor einem Zeitgeist, der stets beleidigt ist. Ist das schlecht: brav, bieder, verzagt.

Die Begründung ist rein sprachlich gehalten und nur für eine akademische Minderheit von Belang, sie zeigt null Gefühl für den allgemeinen Sprachgebrauch und die Relevanz eines Begriffes. Die zunehmende Irrelevanz der Sieger zeigen auch die lächerlichen Fehlentscheidungen der letzten Jahre, die denn auch unmittelbar im Orkus verschwanden: Lichtgrenze (2014) anyone? Oder Rettungsroutine (2012)? Vergessen. Dagegen waren der Wutbürger (2010) oder der Stresstest (2011) Gold.

Prognose: Die Öffentlichkeit wird die Wahl weitgehend ignorieren und weiter ungeniert von Flüchtlingen sprechen. Nur die drei Sektoren Politik, Medien und Universitäten werden in ihren Filterblasen zukünftig stärker von Geflüchteten sprechen, ohne dass daraus weiterer Schaden entstünde – erst recht nicht unter den Flüchtlingen.

Nachtrag (1.3.2016): Eine anregende, lesenswerte Auseinandersetzung um die Auswirkungen der Verniedlichung des -lings findet sich auf Achgut.com.

2 Responses to Fehlwahl Flüchtlinge
  1. […] Hier geht’s zu meinem Eintrag über Flüchtlinge als Wort des Jahres. […]

  2. […] den vergangenen Jahren gab es aberwitzige Entscheidungen wie Heißzeit (2018), Respektrente (2017), Flüchtlinge (2015) oder auch, besonders bizarr, Lichtgrenze […]


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