„Ich bin am Arbeiten“ – nicht selten liest man diese Art Verlaufsform. Das ist nicht falsch, aber auch nicht schön. Wie man sie eleganter schreiben kann!
(14.11.2012, aktualisiert am 11.11.2017 & 15.1.2019) Heute eine stilistische Feinheit, die im Laufe der Jahre (!) zu einem der meistgelesenen Beitrag dieses Blogs avanciert ist. Sie fällt mir immer wieder bei der Lektüre auf, und ich möchte sie gern festhalten, weil sie unschön und leicht zu vermeiden ist.
Es geht dabei um die Substantivierung von Verben, mit der eine Art Verlaufsform wie im Englischen gebildet wird. Man hört sie nicht nur oft in Telefongesprächen im Büro oder liest sie in Statusmeldungen online, sondern auch in Medien. Neben der konkreten Aussage „Ich bin am Arbeiten“ habe ich ein paar analoge Beispiele gefunden.
„Ich bin am Arbeiten“ in der Süddeutschen
Ein Beispiel aus einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom Monatsanfang (2.11.2012), über Nach-Wirbelsturm-Sandy-New York:
Schwer zu sagen, wer am Arbeiten und wer am Ausgehen ist.
Natürlich kann man das so schreiben, daran ist nichts falsch. Nur dass es umständlich und plump und nicht unbedingt typisch für das Deutsche ist. Die Verlaufsform lässt sich am ehesten nachbilden, indem man ein gerade einfügt:
Schwer zu sagen, wer gerade arbeitet oder wer gerade ausgeht.
Fürs Gespräch hieße das statt „Ich bin am Arbeiten“: „Ich arbeite gerade.“ (Geht auch in Kombination mit einem „Du“ vorweg.)
Der Charme dieser Lösung: Die Verben bleiben Verben – rein und klar, sozusagen, vor allem stark, wie ein gutes Rückgrat sein sollte. Sie werden so nicht zu Substantiven erhoben, die dann von einer schwachen Form von sein als Verb gestützt werden müssen.
„Ich bin am Arbeiten“ – zweites Beispiel
Dies ist kein Einzelfall. Nur einen Tag später schrieb die SZ im Feuilleton anlässlich der amerikanischen Präsidentschaftswahlen über die Mormonen, denen der Kandidat Mitt Romney angehört. Wörtlich heißt es:
Die Frauen sind unermüdlich am Backen und Einmachen für die Nachbarschaft.
Auch in diesem Beispiel werden die Verben zu Hauptwörtern gemacht. Warum nicht ganz einfach so?
Die Frauen backen und machen unermüdlich für die Nachbarschaft ein.
Eines muss man den Autoren zugute halten: Man hört diese Substantivierung wie gesagt häufig gesprochen, was sie quasi-richtig macht; ähnlich dem Trend, das Verb in die Satzmitte zu stellen, statt ans Ende, wie sonst im Schriftdeutsch üblich.
Aktualisierung, 15.1.2019: Inzwischen gibt es auch einen Eintrag in der Wikipedia zum so genannten am-Progressiv.
Und wenn Sie soviel am Arbeiten sind, dass Sie nicht mehr zum Ausgehen kommen, können Sie in der Singlezentrale online daten.
[…] „Ich bin am Arbeiten“ – die schräge Verlaufsform […]
Das ist keine “Nachbildung der englischen Verlaufsform” sondern völlig normales Süddeutsch.
Hallo H.Sch.,
danke für diesen interessanten Hinweis.
Ich würde ihm gern nachgehen – sind Sie selbst aus Süddeutschland oder haben Sie Quellen oder Belege?
Freundlich grüßt
Kai Bargmann
Hallo Kai,
ich stimme H. Sch. voll und ganz zu und ich bin Süddeutsche.
Mir gefällt “Ich bin am Arbeiten” in der geschriebenen Sprache auch nicht, deshalb bin ich auf dieser Seite gelandet. — Vielleicht formuliere ich es tatsächlich um und schreibe “Ich arbeite gerade.”
Ja, die Verlaufsform und die vielen Substantive…. Ich lebe seit vielen Jahren in den USA und stolpere häufig darüber, dass ich einen deutschen Satz mit einer Syntax anfange, die mir das Englische suggeriert, welches die Verben bevorzugt.
Hallo Ulrike,
danke für Ihren Kommentar.
Interessant, dass sich die These mit den Herkunft aus dem süddeutschen Raum erhärtet.
Haben Sie für Ihre Aussage aus dem letzten Satz ein Beispiel?
Freundlich grüßt Kai
Hallo Herr Bargmann,
soweit ich dies hier las, sind Sie dem am Nachgehen, woher die Verlaufsform kommt.
Meines Kenntnisstandes nach ist die eigentliche Bezeichnung ‘rheinische Verlaufsform.
Flüsse nahmen oft Einfluss auf den Sprachwandel – als Grenze oder auch als Träger. Diese ‘rheinische Verlaufsform’ erscheint so von Süd bis Nord mit dem Lauf des Rheins.
Selbst komme ich vom Niederrhein und mag die Verlaufsform sehr gerne, meinem Sprachgefühl wird sie jedoch vielleicht zu grob eingesetzt, da es einen Unterschied gibt zwischen ‘ich bin am Arbeiten’ und ‘ich arbeite gerade’. Letzteres bedeutet doch eigentlich, dass man gerade tätig ist. Die rheinische Verlaufsform bedeutet für mich vielmehr, dass ein Prozess von etwas läuft, auch wenn ich diesen nicht gerade in dem Moment des Redens ausführe .
Wenn jemand anruft während ich schreibe und dann ans Telefon gehe – das Schreiben unterbreche -, so ist es für mich angemessener zu sagen, dass ich ‘am Schreiben bin’ als dass ich ‘gerade schreibe’. Wenn ich tatsächlich gerade simultan schreibe, dann mag ‘ich schreibe gerade’ die elegantere Lösung sein.
Grüßend Ana
Hallo Ana,
sehr schöner, humorvoller Kommentar, vielen Dank.
Dass „am Schreiben oder Arbeiten sein“ eine süddeutsche Form ist, hatte sich in den Kommentaren von H. Sch und Ulrike weiter oben schon abgezeichnet.
Ihre Unterscheidung in der Anwendung ist für mich als Norddeutschen nicht leicht nachzuvollziehen. Das scheint eine kulturell gefühlte Eigenheit zu sein.
Mein letzter Einwand: Es ist umgangssprachlich und wird, wenn ich es richtig verstehe, vorwiegend gesprochen eingesetzt. Ist es also für ein Qualitätsmedium wie die SZ angemessen, es zu verwenden? Ich meine nein.
Viele Grüße
[…] über Veränderungen im Sprachgebrauch? Hier lernen Sie, einen Satz wie „Ich arbeite gerade“ neudeutsch zu formulieren. Dieser Beitrag […]
Die Verlaufsform hört sich in allen Beispielen wesentlich schöner und eleganter an, als diese Umschreibung mit “gerade”, insbesondere, da dieses Wort eigentlich nichts anderes bedeutet, als das etwas “gerade”, also waagerecht/senkrecht/ im 90 “grad” winkel ist oder einfach nur genau ausgerichtet…
Das Wort wird zweckentfremdet, um eine noch andauernde Handlung auszudrücken, eine Hilfskonstruktion, mehr nicht! In der Umgangssprache wird das “gerade” oft zu “grad” reduziert, was nichts ungewöhnliches ist… nur ist dieses wort dann völlig verfehlt…
Da ist die “am”-Konstruktion (neudeutsche Verlaufsform) wesentlich eleganter und formschöner, eine echte grammatikalische Neuerung. Ich bin kein Liebhaber der englischen Sprache, aber hier muss ich gestehen, dass da die englische Sprache ausnahmsweise eine sinnvolle grammatikalische Struktur aufweist, wo ebenso das verb substantiviert wird (durch die -ing-Endung),… im deutschen erfolgt dies über ein Verhältniswort, was prinzipiell nichts anderes ist. Man merkt, dass die Entwicklung von sprachen immer den gleichen mustern folgt, nur je nach sprachunterschied eben verschieden umgesetzt wird.
Ich selbst nutze nur noch die “am”- Konstruktion, so wie die englische verlaufsform für momentane Handlungen.
Hallo Hannes,
vielen Dank für den Kommentar. Ihr Argument übersieht, dass gerade eine zeitliche Bedeutung haben kann, i.S.v. momentan oder augenblicklich (Duden).
Daneben bin ich ein Freund starker Verben. Das Hilfsverb sein gehört zu den Schwächsten, ferner schwächt die Substantivierung das Vollverb.
[…] Ein ähnliches, ebenso grassierendes Phänomen ist die Verlaufsform Ich bin am Arbeiten. […]
Sobald ich einen Satz mit “ich bin am ****” lese, fällt mir eine Lehrerin aus meine Schulzeit ein, die entgegenete immer bei dieser Satzstellung “am Kuh, am Schwanz, am raus, am ziehn”. So habe ich’s gelernt, den schrägen Satzbau zu vermeiden.
Danke, Eva, der ist gut, den muss ich mir merken. 🙂
[…] her müsste man sagen: Der Lesende liest gerade, der Leser vielleicht vorhin oder nachher wieder. Lesend bin ich nur, solange ich lese. D.h. Diejenigen Leser, die gerade nicht lesen, sind dann keine. Die beiden Begriffe bezeichnen […]
[…] des Blogs entwickelt hat, habe ich ihn heute auch in die Rubrik Trends aufgenommen. Damit hat er diesen Eintrag von der Spitze […]
Comment * Die Ausdrucksweise ist einfach nur umgangssprachlich und super unschön. Hier jetzt irgendwie sagen zu wollen, dass sei eine süddeutsche Form etc., der ist sich einfach nicht bewusst, wann er sich gut oder schlechter ausdrückt. Bald kommt der nächste, der dann sagt “gemacht gehabt, gesehen gehabt” sei typisch bayrische Form.
Hallo Maria, danke für den Kommentar. Der Hinweis auf den süddeutschen Ursprung soll die Herkunft verdeutlichen, ist aber keine Wertung oder gar Schuldzuweisung; gut möglich, dass sich die Form inzwischen auf ganz Deutschland ausgebreitet hat. Ob gemacht gehabt ebenfalls dorther stammt, müsste man untersuchen, ich würde es nicht ausschließen. 😉
Ich bin keine Sprachexpertin. Bin nur aus Versehen hier gelandet. Aber wenn die Variante im Süddeutschen normal ist, müsste man vielleicht auch mal über die Grenze gucken? Weil in der deutschsprachigen Schweiz ist diese Formulierung in allen Dialekten alltäglich. Vielleicht hat es daher mit diesem Unterschied zu tun? Die Deutschen sollen irgendeinen Sprachsprung gemacht haben, der in der Schweiz und im südlichen Deutschland ausgelassen wurde. Ich weiss es nicht mehr genauer, aber euch wird schon bekannt sein, was ich meine. Vielleicht liegt es mit diesem Sprung zusammen?
(Wenn ich deutsche Etymologie nachschlage, treffe ich immer wieder auf im Deutschen veraltete Wörter, die in Schweizer Dialekten noch genauso gesprochen werden, wie in Deutschland vor Jahrhunderten.)
Unbestritten gelten in der Schweiz andere Begriffe – ich sage nur parkieren oder grillieren. 😉 Geografische Hürden, Grenzen und Distanzen sorgen für unterschiedliche Sprachräume, man denke an das britische und amerikanische Englisch. Insofern leuchtet mir ein, dass man in der Schweiz am Sprechen ist, während ich nur nur sprechen würde. 😉