Beim Gebrauch des Adjektivs kongenial herrscht große Unsicherheit. Es wird oft gebraucht, aber ebenso oft falsch – nämlich mit genial gleichgesetzt. Was das eine vom anderen unterscheidet!

(27.4.2011) Samstag war’s mal wieder soweit, kurz vor halb zwölf auf BR-Klassik. Thema: Glenn Gould. Moderatorin Ursula Adamski-Störmer spielt sich im Gespräch mit dem Pianisten Stefan Arnold  die Bälle zu, er schwärmt von Goulds „kongenialer Interpretation“ der Bachschen Goldbergvariationen.

Ist Gould mit Bach geistesverwandt?

Kongenial: Im Duden steht dafür geistesverwandt, geistig ebenbürtig. Eine geistesverwandte Interpretation? Verwandt mit wessen Interpretation – Bachs? Wie die wohl klang? Gould allgemein geistig verwandt oder ebenbürtig mit Bach? Möglich, aber klingt das nicht gewollt, gestelzt und geradezu an den Haaren herbeigezogen? Während kongenial andererseits irgendwie oder fast genial nahelegt?

Eine Silbe macht den Unterschied. Ich werde das Gefühl nicht los, dass kongenial und genial manchmal verwechselt werden – so auch hier. Denn Arnold zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er von kongenial sprach. Man spürte, er wollte genial sagen, aber es kam ihm nicht über die Lippen. Traute er sich nicht? War es zu elitär? Ross und Reiter zu benennen ist verpönt, in der neuen Gleichheit (vgl. Menschen) wird lieber relativiert – und schwupps war unabhängig von der Bedeutung das kongenial da.

Oder ist Gould so genial wie Bach?

Nachdem der letzte Ton verklungen ist, macht Arnold es besser. Er spricht vom genialen Glenn Gould. Genial, schreibt der Duden, heißt entweder hervorragend begabt oder großartig, vollendet. Beide Bedeutungen liegen näher und passen besser, sowohl zu Gould als auch zu seiner Interpretation. Dem Stabreim sei Dank!

Nachtrag (14.5.): Eine Kollegin hat das Phänomen auch beobachtet und folgert, dass kongenial oft als scheinbare Steigerung von genial verwendet wird.

13 Responses to Genial vs. kongenial: Der kleine Unterschied
  1. […] Ich leide übrigens nicht allein unter diesem Phänomen, wie die Popularität des Eintrags über kongenial […]

  2. Der Duden führt “kongenial” allerdings auch als Synonym zu “genial” auf. Ist das eine jüngere Ergänzung, in Anlehnung an den Sprachgebrauch?

    • @ Kitty Cat: Danke für den Hinweis, online auch gerade gesehen. Meine gedruckte Ausgabe enthält diesen Zusatz nicht, es ist allerdings nicht die neueste Auflage. Er ist insofern folgerichtig, als er der Neigung des Duden-Redaktion entspricht, eher Einebnungen zuzulassen als Unterscheidungen fortbestehen zu lassen. Insofern ist er auch ein Zugeständnis an den Sprachgebrauch.

  3. Sehr hilfreich, gerade. Danke. Vor allem das Update “Kollegin ….”
    Und @ Kai Bergmann:
    Kongenial geantwortet! 🙂

    • Lieber Eric Freesoul, sorry, ich war durch Aufträge so ausgelastet, dass ich hier leider länger nichts moderieren konnte. So kam es, dass ich Ihren Kommentar erst so spät freischalten konnte. Ich bitte um Verständnis und danke für die Blumen.

  4. Wer unterliegt nicht gelegentlich der Versuchung funkelnder (Fremd-)Wörter? In diesem Fall aber ist gegen die Verwendung des Begriffes der Kongenialität kaum etwas einzuwenden, besagt er doch nichts anderes als die Ebenbürtigkeit von Interpretation und Original. Man kann füglich darüber streiten, ob das der musikalischen Leistung angemessen ist, als enthusiastischer Ausdruck subjektiver Hochachtung ist daran nichts falsch. Zugegeben, Lob in den höchsten Tönen klingt nicht selten schrill, aber wem ist es schon gegeben auf der Klaviatur der Sprache so beseelt zu tremolieren wie ein Glen Gould auf dem Steinway 😉

    • Hallo Herr oder Frau Lindun,

      vielen Dank für einen Kommentar auf einen relativ alten Beitrag, der sich aber nach wie vor großer Beliebtheit erfreut. Mal abgesehen von der Frage „kongenial oder nicht“ (für deren Beantworung ich, wie ich meine, einige Anhaltspunkte und Belege angeboten habe), sprechen Sie einen guten Punkt an: Immer wieder erlebt man es, dass die Kritik eine geradezu verherrlichende Fanhaltung einnimmt, wo mehr Sachlichkeit, Distanz und Einordnung geboten wären. S. z.B. einen Beitrag des BR (leider nicht mehr abrufbar, 12.5.2017) über James Rhodes. Am Ende schwingt sich der Verfasser noch mal in verklärende Höhen auf: „Das macht seine Musik groß.“ Hat es das wirklich gebraucht? Ich meine nein.

  5. […] P.S. Hier geht es zum meistgelesenen Beitrag 2012, einem Evergreen von 2011. […]

  6. […] Möchten Sie jetzt wissen, was der Begriff kongenial bedeutet? Er ist nämlich neben dem Verdienst der meistgesuchte in diesem Blog. Ganz einfach – bitte hier. […]

  7. […] Genial vs. kongenial: Der kleine Unterschied (April 2011) […]


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