Die Rechtschreibung wankt. Gefördert zum Beispiel durch eigenwillige Schreibung von Substantiven in der Werbung.

Ungekoppelte Substantive 2017

Überall Streben nach Sicherheit, nur nicht in der Rechtschreibung – Kioskwerbung im Münchner Hauptbahnhof.

Ich habe meine Tochter zum Bahnhof gebracht. In der Haupthalle herrscht ein wildes Getümmel aus Reisenden und Bediensteten, aus Farben, Formen, Materialien, Gegenständen, Geräuschen und Gerüchen, Bildern und Botschaften. Jedes davon buhlt um Aufmerksamkeit, ich weiß gar nicht, wohin ich zuerst schauen soll.

Unvermeidlicherweise, vielleicht sogar gezwungenermaßen lasse ich also meinen Blick schweifen. Er fällt auf diverse Werbetafeln, wie z.B. diese:

Rinder Gulasch

und Gulasch Suppe warb ein Kiosk neben Chili con Carne.

KinoZeit

versprach die Bahn in ihren Zügen.

Der eine reiht einfach Substantive aneinander, der andere schreibt zusammen, entscheidet sich aber für eine Binnen-Versalie. Dies sind nur zwei Beispiele, die mir in Erinnerung geblieben sind. Ich schätze, da waren mindestens ein Dutzend dieser Fälle. Umgekehrt habe ich kein einziges richtig geschriebenes zusammengesetztes Hauptwort gesehen. Nirgends ein Rindergulasch, eine Gulaschsuppe oder eine Kinozeit.

Schnellere Wahrnehmung durch markante Schreibung

Es mag gute Gründe für diese Schreibungen geben. Man könnte argumentieren, dass der Blickkontakt im reizüberfluteten Bahnhof mit einer Botschaft so kurz ist, dass Wörter einzeln geschrieben werden, weil sie dann schneller aufgenommen werden. Aus Marketingsicht mag die Bundesbahn die Auffassung vertreten, KinoZeit sei im Grunde bereits ein Marken-, mindestens aber ein feststehender Begriff innerhalb der CI des Unternehmens und trage zur Markanz des Unternehmensauftritts bei. Abgesehen davon, dass hier vielleicht auch nur brav kopiert wird, was uns die Innovativen aus den USA vorgeben – denken Sie an das iPhone oder, ganz neu, den HomePod.

Ich aber frage mich, wie eigentlich so etwas wie Rechtschreibung aufrechterhalten werden soll, wenn jede Verbindlichkeit fehlt. Wenn eine falsche, nämlich grafische Einheitlichkeit gepflegt wird, weil sich Rinder Gulasch an der Schreibung von Chili con Carne orientiert. Und offenbar niemand mehr versteht, dass das eine ein zusammengesetztes Substantiv und das andere ein Eigenname ist, weswegen man beide unterschiedlich schreibt.

Kultur des Anything goes

Ich denke dabei nicht nur an meine Tochter, aber auch. Ich denke zum Beispiel auch an die, die erst seit Kurzem hier leben. Wie sollen sie deutsch lernen und verstehen, geschweige denn sicher anwenden, wenn ihnen die Fehler täglich vom Fernsehschirm oder von Werbeflächen entgegenlachen? Ich denke an meine Kunden: Wie soll ich ihnen erklären, welche Schreibung sie verwenden sollen, bzw. warum bestimmte Schreibungen Unsinn sind, wenn sie sie genauso täglich überall sehen?

Mir geht es dabei nicht um eine äußerliche Einheitlichkeit, sondern eine funktionale Verbindlichkeit. Ist es so schwer, zu verstehen und anzuwenden, dass man im Deutschen zwei Worte zusammenschreibt, wenn man sie kombiniert, und dass man in manchen Fällen ein Bindungs-s und in anderen einen Bindestrich verwendet, um die Lesbarkeit zu verbessern? Und dass die allgegenwärtige englische Sprache das nicht tut?

Beliebigkeit, Verwirrung, anything goes. Nur dass mir der Ausflug zum Bahnhof den Eindruck vermittelt, dass dieser Trend inzwischen die Vorherrschaft an sich gerissen hat und die konfuse, falsche Schreibung die Regel geworden ist. Für den Texter eine schwierige Situation und eine undankbare Aufgabe.

Mehr Beispiele aus der Welt der Knabbereien.

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