(10.1.2011) Auf der Seite 3, der großen Reportage, der Süddeutschen Zeitung sind am 23.12.2010 die Probleme der Bahn in einem strengen Winter Thema. Schnell findet sich einer dieser typischen Sätze: „Die Verspätungen der Bahn bedeuten für viele Menschen eine Kränkung.“ Fröhlich macht sich Luft im Satz breit. Für wen auch sonst? Für Hamster, Katzen oder Hunde? Wie wär’s mit rauslassen? Sind viele keine Menschen? Wie wärs mit mehr Sachlichkeit und Genauigkeit: Sind die Menschen nicht vielmehr Kunden? Oder Fahrgäste?

Nur wenige Zeilen weiter sind wir auf dem Flughafen angekommen: Da ist von den Sicherheitskontrollen die Rede, durch die neben dem Autor „auch andere Menschen auf Socken laufen.“ Wer auch sonst: Rinder, Schweine, Schlangen? Wenn man die Menschen schon nicht weglassen kann, weil’s so schön menschelt – wie wär’s mit einem treffenderen Substantiv, Reisende etwa, oder Passagiere?

So geht das in einem fort, landauf landab haben die Menschen in den Medien Einzug gehalten. Es gehen keine Zuschauer mehr ins Stadion, sondern . . . Menschen. Auf der Straße stehen keine Demonstranten mehr gegen den tunesischen Präsidenten auf, sondern  . . . Menschen. Bei Verkehrsunfällen fehlen Tote und Verletze, denn die Opfer sind . . . Menschen. Und Claus Kleber spricht im Heute-Journal zu Jahresbeginn nicht von Solaranlagenbesitzern, sondern von Menschen, die eine Solaranlage haben.

Warum macht man das? Welchen Nutzen ziehen Medienmacher aus der permanenten Vermenschlichung? Erhöht es unsere Würde? Macht es uns zivilisierter? Rücken wir enger zusammen? Nachlässigkeit? Gewohnheit? Mode? Der Beginn eines neuen Zeitalters? Oder nur ein kurzfristiges Phänomen? Wie auch immer: Aus nachrichtlicher Sicht empfehlen wir das treffende Substantiv statt des Gemeinplatzes. Denn, äh, sind wir nicht alle Menschen? Will sagen: Einem so allgemeinen Wort fehlt im Zusammenhang die Unterscheidungsfähigkeit. Andere Worte können das besser.

9 Responses to Und immer die Menschen: Die neue Gefühligkeit
  1. […] über den Triumph des Menschen in den Medien. Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Stil, Trends abgelegt und mit 2012, Euphemismus, […]

  2. […] die Opfer, Zuschauer, Einwohner oder Passagiere verloren gehen, habe ich vor einiger Zeit schon geschrieben. Solange es ein treffenderes Wort gibt, sollte man es verwenden, sonst geht Information […]

  3. […] Das geschieht öfter, vgl. meine Einträge zum treffenden Wort, z.B. zur Verwendung von „Mensch“. Wäre ich ein Spötter, würde ich sagen, was tut man nicht alles, um sich angesichts […]

  4. […] nicht? War es zu elitär? Ross und Reiter zu benennen ist verpönt, in der neuen Gleichheit (vgl. Menschen) wird lieber relativiert – und schwupps war unabhängig von der Bedeutung das kongenial […]

  5. […] Unterschied, dass Nafri Menschen bezeichnet, und die sind in Politik und Medien eine besondere Kategorie, weswegen auch schnell von Herabwürdigung die Rede war. Zu bedenken ist m.E., dass gerade in einem […]

  6. […] Bei der nächsten Generation wird es vielleicht schon egal sein – dann ist die Kaffeemaschine sprachgesteuert. Doch die Kühle der Ingenieure ist umso erstaunlicher, als der Mensch in den Medien seit Jahren konsequent glorifiziert wird. […]

  7. […] genauer zu bezeichnende Funktion, z.B. als Zuschauer, Zeuge, Arbeitslose etc. pp. Dazu finden Sie hier […]

  8. […] indigen zu bezeichnen. (Ich habe hier der Abwechslung halber auf die Nutzung des allgegenwärtigen Menschen verzichtet.) Der Duden übersetzt es uns ganz nüchtern […]

  9. […] medialer Wortschatzverengung und herrschender Moden und Vorgaben ins Hintertreffen geraten. Die vom Menschen weitgehend verdrängten Passanten wären dafür ein Beispiel. Sie haben allerdings den […]


[top]

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.